Zufrieden trabt sie heimwärts. Hosengut wohnt zwar nicht weit von hier, aber das macht sie lieber telefonisch, außerdem hat sie Hunger.
Im Kühlschrank ist noch Obst. Bloß kein Fett mehr zum Abendbrot, lieber ein paar Flohsamenschalen dazu, damit sie nicht wieder zunimmt. Die Äpfel werden gut gewaschen, nur der Stiel kommt ab. Apfelgriebsche putzen den Darm, war ein Spruch von Omi. Oben im Wohn- und Schlafzimmer knipst sie die Stehlampe an und setzt sich auf die Tagesdecke vom weißen Metallbett.
Rakete und Circe sind schnell neben ihr, Lilly braucht etwas länger und muss hochgehoben werden. Das Alter. Sie schnüffeln kurz und wenden sich dann uninteressiert von Cheryls Teller ab.
Plötzlich ist sie müde und schläft sofort ein. Da ist die Milchglaswand oben schon da. Cheryl tippt mit dem Finger dran, ob es auch wirklich wahr ist. Die Hand fährt durch das Glas und sie geht weiter durch die sich erweiternde Öffnung. Ein Zwerg kommt ihr entgegen und nimmt sie an der Hand, führt sie in einen blumenduftenden Garten, wo ihre Katzen schon herumstreunen und schnüffeln. Mein Gott, wie schön!
Ich bin Aris Schulze-Mayer und Zauberer.
Du hast vor meinen Bildern gestanden und geschaut.
Schönes gefällt mir, aber ich sehe auch so etwas: Simsalabim. Seine Hand wirbelt durch die Luft. Ein Schatten fällt auf den Garten. Cheryl erkennt das Zeltlager der Flüchtlinge, frierende Kinder.
Ich dachte, die Zelte sollten bloß bis zum Herbst eine Notlösung sein?
War auch so gedacht, aber das Gebäude für die Unterbringung ist ausgebrannt. Brandstiftung von unbekannt.
Schrecklich!
Darum hast du im Lotto gewonnen, ich hab deine Zahlen verändert.
Und ich dachte schon, dass ich diesmal versehentlich andere Zahlen angekreuzt hätte. Was kann ich denn schon tun, mit meinem Winzighaus.
Da steht ein früherer Tanzsaal an der Kneipe „Zum Mühlgraben“ leer. Die Wirtin kocht schon für Flüchtlinge, aber sie ist alt und will bald aufgeben.
Hab mal von draußen in den Saal geguckt. Ist ziemlich runtergekommen alles.
Aber mit dem Gewinn könntest du´s umbauen lassen. Gemeinschaftswohnungen mit Toiletten und Duschen, aufstocken vielleicht später. Hosengut wäre der richtige Mann.
Aris ist wirklich ein Zauberer. In Cheryls Fantasie prasselt ein buntes Feuerwerk von Ideen.
Wovor hast du Angst? Ich werde von Anfang an einen Zauberbann darum ziehen, da kommt kein Brandstifter durch. Du bist auch begabt, sonst wärest du nicht durch eine Wand gekommen, die es noch nicht gibt.
Cheryl wacht auf mit einem unsagbaren Glücksgefühl. Helfen dürfen!
Sie steigt in die Küche runter und benutzt die farbenfrohe Toilette daneben, steigt in die Wanne und duscht. Nur ein Traum? Es war alles so realistisch. Sogar die Hand von Aris hat sie fühlen können.
Oben fährt sie den PC hoch und sieht nach, ob sie Arbeiten von Hannes Hosengut findet. Klar, das gefällt ihr. Sieht zwar bisschen von Hundertwasser abgekupfert aus, aber der hat ihr schon immer gefallen. Sie kennt sogar eine Hundertwasserschule. Ah, das hier erinnert sie eher an Jugendstil, ist aber moderner. Und hier ausgebaute Fachwerkhäuser, das Material Lehm kommt wieder in Mode, ist wärmedämmend und im Sommer kühl. Wusste sie nicht. Ein Null-Energie-Turm für `ne WG aus der alten Mühle. Ziemlich vielseitig, der Mann.
Sie ist zufrieden, aber sie findet lange keinen Schlaf, weil die Ideen im Kopf rastlos wirbeln. Von Rakete wird sie dann aber hemmungslos aus tiefem Schlaf gerissen. Hunger. Was, jetzt schon? Es ist dunkel. Na klar, bald September zu Ende.
Wieder überrascht sie ein Glücksgefühl. Kann Geld doch glücklich machen? Kommt drauf an, was du draus machst. Genau. Soziale Kompetenzen erweitern. Farbeffekte taumeln durch ihre Augen, lustig soll alles aussehen dann, nimmt sie sich vor. Schon wegen der Kinder, die so viel Leid erlebt haben, Krieg, Hunger und Flucht.
Vom Laden aus ruft sie den Architekten an.
Bin total ausgebucht im Moment, aber ich arbeite mit Dillgarten zusammen, der hat schon manches an meiner statt gedeichselt.
Und wo isser?
Sitzt neben mir. Moment.
Ja?
Hier Goldinger! Ich möchte erstens im Dachgeschoß an der Giebelseite eine große Glaswand haben und zweitens vielleicht einen alten Tanzsaal für Flüchtlinge ausbauen lassen.
Archiv der Kategorie: Lesen, schreiben, malen
Die herrlich verrückte Welt der Cheryl 1.
Im Lotto gewonnen, sag bloß?! Bist du nicht glücklich?
Geld macht nicht glücklich, weil Dinge nicht glücklich machen, nur die Beziehungen zu Menschen oder Dingen.
Mensch, bist du schlau.
Nee, bloß nachdenklich vielleicht.
Aber Geld muss man ausgeben.
Klar, werde ich das auch, wie verrückt, planmäßig und gezielt.
Du hast Träume.
Immer schon gehabt. Seinen Traum soll man leben, Scheißspruch, aber wahr.
Gibst du deinen Gerümpel Laden auf?
Spinnst du? Überhaupt „Gerümpel“, du redest `ne ganze Blechkolonne.
Na, Bücher über Bücher, alte Tischchen, olle Kommoden und Schränkchen, die dir kaum mal jemand abkauft.
Meine Bilder auch Gerümpel? Wegen denen kommst du doch immer wieder.
Auch. Vor allen Dingen deinetwegen.
Dass ich nicht lache. Deine Frau ist bitterböse auf mich, ich würde dich dazu verführen, das Geld für Müll auszugeben.
Die versteht eben nichts von Kunst und Künstlern.
Du bist einer, ein Hungerkünstler mit Hund.
Kann eben nur Krimis. – Und du ´ne Ladenbesitzerin mit ´nem Knall und sieben Katzen.
Die magst du doch, bringst immer was mit für die.
Um mich bei dir einzukratzen.
Nu ist aber genug. Ab durch die Mitte.
Du schmeißt mich einfach raus?
Guck mal auf die Uhr.
Du machst wieder mal zu früh Feierabend.
Zu spät. Kannste nicht lesen.
Geänderte Öffnungszeiten. Ohlala.
Das war das Allererste.
Komm noch ein Stück mit in den Park!
Du spinnst schon wieder.
Schade! Tschüss, du Süße.
Die kleine dicke Cheryl lacht und schließt die Tür ab, knipst das Licht aus und geht durch den dämmerigen Raum zwischen den Möbeln hindurch nach hinten in die kleine Küche. Sofort kommen zwei Kater an geschnurrt, die Katzen liegen lässig da. Sie können warten.
Sie zählt die Häupter ihrer Lieben, wie immer, sieben. Wenn´s Futter gibt, sind alle da. Aus dem Gazeschränkchen auf der überdachten Terrasse zum kleinen Garten nimmt sie frische Sprotten. Es ist kalt draußen. Aber die Katzen werden außerhalb gefüttert, damit sich der Fischgeruch nicht in der Küche festsetzt. Jeder hat seinen Teller und einen Trinknapf. Ordnung ist das halbe Leben, sagte die Omi immer.
Die Oma Goldinger hat ihr das schmale Haus mit dem Laden vermacht, den sie bis zu ihrem Ende beherrscht hatte. Nur langsam ließ sie sich dies und das aus der Hand nehmen, durfte Cheryl etwas ändern. Aber die Kräfte ließen dann schnell nach. Ich denke, dass sie glücklich eingeschlafen ist in der Küche, als ich im Laden Käufer hatte. Sie hat noch alles gehört, was sie hören wollte. Schmunzeln.
Rakete, Lilly, Bofinger, Doppelmoppel und Circe heißen die Katzen, die sich nach und nach durch den Garten bei ihr eingeschlichen haben. Omi hatte nur Sartré und Luzifer, als Cheryl ankam, die beiden Kater Die haben auch voll die Herrschaft. Heißt so gut: Hunde haben ihre Herrchen, Katzen ihre Diener.
Aber sie stürzen sich nicht auf das Fressen, bevor das Kommando kommt: Los!
Cheryl schaut von der Küche aus zu, bedauert zwar, dass sie hier das Geschmatze nicht so gut hört bei geschlossener Tür, aber man sieht, dass es schmeckt. Wenn sie sich geputzt haben, dürfen sie wieder rein und mit nach oben. Cheryl überlegt kurz, steigt nach ganz oben ins Atelier. Hier wird sie zuerst etwas ändern: Mehr Licht. Der Raum geht nach Norden und Osten, das ist günstig, nun wird an dieser Giebelwand eine große gläserne Mattscheibe angebracht werden. Nur kein grelles Licht, das mag sie nicht zum Malen, nur bei Freiluftmalerei. Doch dazu kommt sie kaum. Früher hatte sie ein paar Semester Kunst studiert, bevor die Mutter Krebs bekam.
Sie nimmt das Tuch von der Staffelei – nein, jetzt male ich nicht, bloß gucken, wie`s aussieht. Ein Clown mit Katzen, die um ihn herum springen und schweben, balancieren und schreien. Cheryl lacht sich selbst aus: Ich bin ein trauriger Clowny, die fressen mich kahl. Die blaue Perücke hat eine Katze an die Gardinenstange geschlenkert, der Zauberstab segelt durch die Luft, Kastagnetten liegen neben Klanghölzern und der Panflöte. Es wird, das Bild.
Sie hängt es wieder zu und geht hinunter, wo neben dem Bücherregal der PC und der kleine Weltempfänger stehen, beide Tischchen darunter blau gestrichen. Sie liebt Blautöne, Jazz und Clownerie.
Im Internet sucht sie einen örtlichen Glaser, findet ihn und fährt den PC runter.
So ihr lieben, jetzt geh ich doch noch mal los, bevor der Glaser Feierabend hat.
Luzifer ist nicht einverstanden. Er springt vom Fensterbrett und sie an mit Pfötchen hoch wie ein Hund.
Der weiße Lichtbringer will tanzen, sie dreht sich ein paarmal mit ihm und lässt ihre Rasselbande dann allein zurück.
Auf der Straße ist es schon ziemlich dunkel, aber sie weiß, wo die Mühlenstraße ist. Als sie bei Finn Fuchsbuckel eintrudelt, hat der aber doch Feierabend. Mutig drückt sie auf die Klingel. Mürrisch klingt es von hinter der Tür: Geschlossen! Aber dann wird trotzdem geöffnet. Ein mittelgroßer Typ unbestimmbaren Alters schaut sie an, ach die Künstlerin aus Oma Goldingers Laden.
Sie kannten meine Großmutter?
Klar. Bin ein Eingeborener. Wo brennt´s denn?
Ein Umbau des oberen, hinteren Giebels zu einer Glaswand.
Na komm! Erklär mal. – Hm, da wirst du einen Architekten brauchen, ist `ne tragende Wand. Da reiße ich nix einfach ab. Bringt der Laden so viel ein, dass du das leisten kannst?
Würde schon gehen.
Also der Hannes Hosengut macht das sicher erschwinglich.
Ach, das ist ein Kunde von mir. Wusste nicht, dass er Architekt ist.
Bist halt `ne Zugezogene, der ist ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Ich geb dir die Adresse.
Hab ich mal was hin geliefert, kenn ich. Danke.
Und wenn ´ne Zeichnung da ist, kann ich auch mit Ziegeln umgehen als Glaser und Bautischler.
Fein! Ich komm dann wieder.
Manuskript vorläufig abgeschlossen
Mein Manuskript für den Roman „Das Lied von Wyrrnuma“ ist jetzt für mich nur noch erneut zu kontrollieren. Leider fehlen mir Leser, die wirklich Ahnung von so etwas haben und mir irgendwie behilflich sein könnten. Für diese fast 400 Seiten wird das schwierig sein, aber ich habe bereits ein Exposé geschrieben und werde drei Textproben dazu bereitstellen.
Wer möchte eine/r der ersten LeserInnen sein?
Für Autoren
Geistiges möglichst ungeistig, sinnlich, heiter und unkompliziert zu schreiben bleibt das höchste und letzte Ziel des Schriftstellers.
Alfred Kerr
Unsicherheit
Nach der Wohnungsbesichtigung in der Kartäuserstraße warten wir nun auf Bestätigung oder Absage. Ich habe momentan einige Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit und hoffe sehr, wenn das nervlich ist und mit der Unsicherheit zusammenhängt, dass die Entscheidung bald fällt.
Auch der eigentlich gute Fortschritt mit meiner neuen Erzählung verunsichert mich, wollte doch etwas weitaus lockereres Lustiges schreiben, aber es ist immer wieder viel Ernstes darin. Es hat viel zu viele Geschehnisse, die niemals locker und leicht vorübergehen. Aber ich will das jetzt lernen, wie es gehen muss.
Schaun wir mal!
Wort meines Tages 18. 8. 2015
schlaflos
Charlenes Abschied 6
Studentenehe
Als ein Kind unterwegs war, heirateten sie, denn der war schon einmal wegen einer sexuellen Beziehung immatrikuliert gewesen und erst nach seinem NVA-Dienst wieder aufgenommen worden. Leider trieb er sich mit jüngeren Mädchen herum. Charlene wollte ihn bald nicht mehr, nachdem sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie reichte die Scheidung ein, doch plötzlich wollte er sie unbedingt behalten und eine Sitznachbarin überredete sie, dass sie die Scheidungsklage zurück nahm. Er beendete das Studium und wurde in einer nahen Stadt in einer Schule angestellt, bekam ein Riesenzimmer in einem Altbau zugewiesen, dort lebten sie dann gemeinsam. Jeden Tag fuhr sie in das Institut zu den Vorlesungen. Charlene ließ ihre Möbel aus der Heimatstadt kommen, sogar ein Klavier bekam sie geschenkt und stellte es dort auf.
Als sie damals mit zwölf Jahren das Ballett abbrach, begann sie Klavier zu spielen. Der Patenonkel Germans war Kirchenmusikdirektor und hatte sich bereit erklärt, sie für wenig Geld zu unterrichten, ein Klavier konnten sie von einer Familie mit vielen Kindern mieten, die es unterstellen wollten. Aber der Klavierlehrer hatte sich mit einer Orgelschülerin eingelassen, die ihn verehrte und liebte, sie wurde schwanger und hatte seine Frau aufgesucht, damit diese ihn „freigeben“ sollte. Diese Organistin in Künstlerformat hatte schon lange einen Hausfreund aus dem Theater, mit dem man sie auf gemeinsamen Spaziergängen sah. Aber das nun war ein Skandal. Er musste in einem kleinen Zimmer zu ebener Erde hausen, während Charlene die gelernten Stücke vorspielte, wusch er nebenan seine Töpfe ab und sie fühlte sich ziemlich beleidigt, weil sie immer wieder die gleichen dämlichen Tonleitern und kindischen Melodien spielen musste. Das gefiel ihr schon nicht, dann wurde er aus dem kirchlichen Dienst entlassen und musste seine neue kleine Familie, die dreiundzwanzigjährige Schülerin hatte Zwillinge geboren, als Repetitor beim Theater ernähren.
Trotzdem hatte Charlene immer wieder gern am Klavier fantasiert, jetzt wollte sie wieder neu spielen lernen. Sie fuhr jeden Tag mit der Straßenbahn oder mit Zug und Straßenbahn zum Studienort und zurück. Ihr Mann war wohl mit seinem Sportunterricht an der Schule nicht ausgelastet, er machte wieder Bekanntschaften.
Eines Tages fand Lene ihren Kleiderschrank verschlossen vor und öffnete ihn natürlich neugierig. Darin fand sie eine Reisetasche mit Frauenkleidung und den Personalausweis eines Mädchens. Da wusste sie, dass sie ihn diesmal zwingen würde, die Scheidung einzureichen und das klappte nach einigem Hin und Her auch. So war diese Studentenehe nach etwa einem Jahr beendet, sie lebte allein in dem Wohnraum und wurde nach dem Staatsexamen auch in dieser Stadt eingesetzt.
Bei der Wahl ihrer Männer hatte Charlene also von Anfang an kein Glück gehabt, im Nachhinein fand sie sich naiv und dumm. Aber damals, als ihr großer Bruder sie schon mit vierzehn an einen reichen Erben verkuppeln wollte und ihr vorschwärmte, wie gut es sich als begüterter Mensch leben würde, konnte sie schon diesen Lackaffen da nicht akzeptieren. Sie wollte nur immer jemanden, den sie schön und anziehend fand. Der Halbbruder sah damals toll aus mit seinen schwarzen Haaren und blauen Augen. Sie musste sich seiner Zuneigung entziehen, als er darauf gedrungen hatte, ihre großen Brüste anzusehen und die auch noch anfassen wollte. Die Mutter hatte ihn ja gleich nach der Geburt in Pflege gegeben, vielleicht nicht mal gestillt, dieser animalische Trieb nach fremden Brüsten zu greifen lag wohl darin begründet. Aber das wusste sie nicht und hätte sie es auch gewusst, wäre sie doch empört zurückgewichen, wie sie es tat, obwohl sie gerne Hand in Hand mit ihm spazieren ging, auch noch, als er sie bei den Diakonissen besuchen kam. Alle glaubten immer. er sei ihr Freund und sie lachten gemeinsam darüber.
Dem jetzigen dritten Ehemann war sie mit siebzig ausgerissen, weil er sie so lieblos behandelt hatte. Vor seelischem Kummer wog sie bei der Trennung nur noch fünfundvierzig Kilogramm und war elend. Aber in den letzten zwei Jahren hatte sie wieder dreizehn Kilo zugenommen. Ja, um keine kleine Pummelige zu werden mit ihren 158 Zentimetern Körperhöhe, passte sie auf, nicht weiter zuzunehmen und ernährte sich sehr gesund, meist sogar vegan.
Fernab von ihrem Traumgrundstück mit Häuschen am Waldrand, Garten, Hund und Katze lebte sie nun, wo sie eigentlich nur mit den Füßen voran dort wieder ausziehen wollte. Vor Jahren einmal, als sie ihren Mann bat, ja niemals auf ihren Grabstein zu schreiben, dass sie eine „nette“ Frau gewesen sei, hatte er ihr gesagt, dass er schreiben würde, dass sie hatten gemeinsam alt werden wollen. So ändern sich die Dinge eben und die Menschen mit ihren Ansichten. Zu anderen Leuten äußerte er sich nun, sie hätten sich „auseinandergelebt“. Sie selbst würde sagen „auseinanderentwickelt“.
Nie wollte sie allein und in der Fremde leben, wie jetzt. Nicht, dass es ihr langweilig wäre, sie hatte immer etwas vor, aber im Alter ohne Partnerschaft zu sein, das hätte sie sich nie gewünscht. Mit einem Trinker zu leben ging aber auf die Dauer nicht, konnte nicht klappen, wenn man empfindlich war wie sie. Die Trauer darüber, für niemanden mehr der wichtigste Mensch sein zu dürfen, gehörte schon lange zu ihrem Wesen. Seit sie erkannt hatte, dass mit ihrem Mann keine Intimität, damit meinte sie natürlich nicht nur die körperliche Liebe, möglich war, weil die gemeinsamen Ideale nur bis zum Erwerb dieses Grundstücks und Häuschens am Waldrand gereicht hatten. Nicht allein leben wollen im Alter und anfangs auch der Wunsch, sich autark zu versorgen, hatte sie die ganze Zeit verbunden. Doch nun spielte ein völlig entgegengesetzter Inhalt des Wie eine desaströse Rolle. Sie hätte es ahnen können, denn er war mit niemandem wirklich befreundet. Wer selbst kein Freund sein konnte, wie wollte er als älterer Mensch mit einer Partnerin leben? Er hatte nur Saufkumpane, na ja, vielleicht waren auch einige Gelegenheitstrinker dabei.
Wort meines Tages
Kartäusernelken
Neue Erzählung begonnen
Die herrlich verrückte Welt der Cheryl Goldinger
Im Lotto gewonnen, sag bloß?! Bist du nicht glücklich?
Geld macht nicht glücklich, weil Dinge nicht glücklich machen, nur die Beziehungen zu Menschen oder Dingen.
Mensch, bist du schlau.
Nee, bloß klug vielleicht.
Aber Geld muss man ausgeben.
Klar, werde ich das auch, wie verrückt, planmäßig und gezielt.
Du hast Träume.
Immer schon gehabt. Seinen Traum soll man leben, Scheißspruch, aber wahr.
Gibst du deinen Gerümpelladen auf?
Spinnst du? Überhaupt „Gerümpel“, du redest `ne ganze Blechkolonne.
Na, Bücher über Bücher, alte Tischchen, olle Kommoden und Schränkchen, die dir kaum mal jemand abkauft.
Meine Bilder auch Gerümpel? Wegen denen kommst du doch immer wieder.
Auch. Vor allen Dingen deinetwegen.
Dass ich nicht lache. Deine Frau ist bitterböse auf mich, ich würde dich dazu verführen, das Geld für Müll auszugeben.
Die versteht eben nichts von Kunst und Künstlern.
Du bist einer, ein Hungerkünstler mit Hund.
Kann eben nur Krimis. – Und du ´ne Ladenbesitzerin mit ´nem Knall und sieben Katzen.
Die magst du doch, bringst immer was mit für die.
Um mich bei dir einzukratzen.
Nu is aber genug. Ab durch die Mitte.
Charlenes Abschied 1
Erinnerungen
Aber schon mit neun Jahren erwischte die Mutter sie an der verbotenen Nähmaschine, wo sie winzige Puppenkleider nähte. Das war ja noch keine elektrische, man musste mit den Füßen auf die verschnörkelte Metallgussplatte treten, um dem Räderwerk Schwung zu verleihen um die Nadel zu bewegen. Sie hatte der Mutter oft beim Nähen zugesehen und die staunte nun nicht schlecht, dass die Tochter es zuwege brachte. Zwar schimpfte sie nun nicht, aber Ermahnungen erfolgten selbstverständlich, nicht nur, weil die Nadel leicht hätte abbrechen können, sondern auch, weil etwas dabei hätte passieren können.
Charlene lächelte innerlich, als sie an die erste Schwägerin dachte, die junge Frau, die der ältere Bruder geheiratet hatte. Dieser war das Malheur passiert, sich beim Nähen und Nachschieben des Stoffes die Nadel durch den Finger zu jagen. Vor Schreck blieb sie so sitzen, bis ihr Mann nach Hause kam und wagte nicht, sich selbst zu helfen. Das war ihr selbst nicht mal als Kind passiert, aber dafür war sie auch so konzentriert und vertieft gewesen, dass sie die Mutter nicht hatte kommen hören.
Das Kind Charlene liebte Steine. Immer wieder bückte sie sich und die schönsten sammelte sie in einem alten Nähkasten, den man so nach außen verschieben konnte, dass drei Etagen einsehbar waren, sortiert nach Größen und Farben. Bis die Mutter in einem Wutanfall beim Aufräumen die ganze Sammlung in den ummauerten Aschebehälter, die sogenannte Aschenkute für das ganze Haus, entsorgte. Lene kroch durch die Luke hinein, aber da Steine schwerer sind als Asche, war eine Rettung unmöglich. Sie hatte bitterlich geweint und es ihrer Mutter lange nicht verzeihen können.
Jetzt stieg sie die fünf Stufen zum Eingangsportal hinauf und schaute oben über die Mauer. Die Aschenkute war abgerissen und es standen nur wie überall die Plastikaschekübel mit den Namen der Mieter dort. Allerdings waren hier noch keine Vorhängeschlösser dran, wie sie es vor anderen Mietshäusern gesehen hatte. Ja, heutzutage war die Müllabfuhr nicht mehr im Mietpreis inbegriffen, jede Familie muss selbst die Müllgebühren tragen.
Mit ebenfalls neun Jahren war Charlene damals dem Schwimmverein beigetreten. Sehr früh im Jahr suchten sie gemeinsam per Fahrrad das Freibad auf, um zu schwimmen. Da Leni sehr dünn war, mussten die größeren Mädchen sie lange frottieren, wenn sie aus dem Wasser kamen, um sie wieder warm zu kriegen. Weil hier in der Stadt damals keine Schwimmhalle existierte, turnten die Schwimmerinnen den ganzen Winter über in der Turnhalle des Gymnasiums an den Geräten. Sie lernte eine gute Körperbeherrschung, aber als die Mutter sie auf ihren Wunsch hin mit zwölf Jahren beim Ballett angemeldet hatte, traktierte die Ballettmeisterin sie immer wieder mit ihrem Stöckchen und monierte ihre „eckigen“ Bewegungen. Angeblich war sie auch zu klein gewachsen, um irgendwann einmal auf der Bühne zu stehen, darum gab sie es rasch wieder auf. Die Mutter sollte ja nicht dafür bezahlen, dass ihr Kind geschlagen wurde. Charlene hatte bemerkt, dass andere Mütter nicht nur bezahlten, sondern Pralinen und Likör mitbrachten. Deren Töchter wurden besser behandelt.
Lenes Mutter strickte viel. Sie konnte herrliche Muster aus Vorlagen nachstricken und saß manchmal bis in die Nacht darüber. Immer wurde sie in hübsche Stricksachen gekleidet. Alte Sachen wurden aufgedröselt und vom zweiten Mann ihrer Großmutter, einem Witwer mit nur noch einem Bein und einem Glasauge, so fest auf Knäule gewickelt, dass sie glattgezogen wurden und man nach dem Verarbeiten das Ribbelgarn nicht mehr von neuer Wolle unterscheiden konnte.
Als Charlene mit vierzehn ins Internat kam, liehen die anderen Mädchen sich schöne Pullover von ihr aus, um zum Fotografen zu gehen. Selbst brachte sie das Stricken nie zu ähnlicher Perfektion, weil die Zählerei ihr nicht lag, sie konnte sich schlecht darauf konzentrieren. Dafür entdeckte sie schon in der siebten Klasse, dass sie Vaters Zeichentalent geerbt hatte. Eine bewunderte Sitznachbarin wurde von ihr auf kariertem Papier porträtiert und war gut gelungen. Sie konnte auch gut mit der Schere umgehen. Mit fünfzehn hatte sie dann einen ganzen Lampenschirm mit schwarzen Scherenschnitten aus eigenen Entwürfen für den Geburtstag der Oberin im Mutterhaus der Cracauer Diakonissen gestalten dürfen. In der Zeit setzte die leitende Lehrschwester sie schon zu solchen künstlerischen Arbeiten ein, statt sie Fenster putzen oder Toiletten scheuern zu lassen, wie das in ihrem Kurs üblich war. Auch beim Sticken von Kissen war sie der Lehrschwester zu langsam, obwohl Lene das ganz gern und mit Eifer tat.
Charlene schaute noch einmal am Haus hoch zu den Fenstern im Giebel, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem jüngsten Bruder, um ihre Reisetasche abzuholen. Über die Bachbrücke konnten jetzt keine Autos mehr in die Bachstraße abbiegen, sie mussten ein Stück weiter in die Geschwister-Scholl-Straße fahren, dann links und dann noch einmal links und rechts einbiegen. Aber laufen durfte man noch über diese Brücke, unter der der Bach nach wie vor durch zwei Röhren fließt. Durch diese von einer Seite zur anderen zu kriechen, hatte immer als Mutprobe unter den Kindern gegolten. Leni hatte sich einige Blutegel von den nackten Beinen abmachen müssen, als sie drüben angekommen war. Barfuß im Bach zu stehen oder zu gehen war trotzdem im Sommer eine Wohltat an Kühle. Es schwammen auch immer Äpfel drin und kleine Fische, sogar Kaulquappen zu gewisser Zeit. Die Kinder liebten den Bach. Wasser ist anziehend.
An jeder Ecke Erinnerungen. Sie wusste, dass sie viel zu weit weg lebte, um später noch einmal in diese ihre Heimatstadt zu fahren. Es war ein Abschied für immer. Mit über siebzig fällt das schon gewissermaßen schwer, aber mit der vor zwei Jahren festgestellten Erkrankung würde sich auch die frühere Fitness nie wieder einstellen. Sie war froh, noch einmal hier gewesen zu sein. Bewusst Abschied zu nehmen schien ihr wichtig. Viele Abschiede hatte sie im Laufe des Lebens durchstehen müssen, nicht alle waren so durchdacht wie dieser.
Der Bruder war im Keller werkeln, so umarmte sie oben die Schwägerin und rief einen Gruß durch die Kellertür, denn sie scheute sich davor, die Stufen wieder hinaufgehen zu müssen. Oft stieß sie sich dabei schmerzhaft die Zehen an, weil die Achillessehnen nicht mehr richtig reagierten.
Aber der Bruder kam rasch herauf, ob er sie denn nicht zum Bahnhof fahren solle, er würde sich nur die Hände waschen gehen. Das nahm sie gern an.
Als Charlene im Zug saß und die bekannten Landschaften an ihr vorbeiflogen, erinnerte sie sich an vieles. Sonntagsausflüge per Fahrrad mit den Eltern in die Dübener Heide, Pilze oder Blaubeeren sammeln, schwimmen im Waldsee. Besuche im Wörlitzer Park mit all seinen Naturwundern, Brücken und Sichtachsen, Inseln und fremdem Baumbestand. Fahren mit der Wörlitzer Bahn bis Dessau, in die dortigen Parkanlagen mit Teehäuschen gehen und auf einem alten Friedhof mit großen Bäumen wandeln.
Mit den eigenen Kindern und deren Vater hatten sie ebenfalls Wörlitz besucht, da war Lenes Mutter noch dabei. Es gibt ein Foto, wo alle neben dem Auto im Gras sitzen und Kartoffelsalat essen. Dabei erzählte Mutti von einem Ausflug mit dem ältesten Bruder zum Ähren lesen nach dem Krieg. Sie hatte auch Kartoffelsalat mitgenommen und Kaffee. Der immer hungrige Ben war heimlich über das Essen hergefallen und als er merkte, dass es plötzlich so wenig aussah, hatte er kurzerhand Kaffee rein gekippt.
Hunger, ja, den kannten sie noch. Obwohl sie selbst immer eine schlechte Esserin gewesen sein soll damals. Vor Wut hatte die Mutter ihr einmal die Kartoffelsuppe über den Kopf geschüttet. Auf der Straße wurde sie gefragt, ob sie ihrer Tochter nichts zu essen gebe, weil die so dünn war, und sie schämte sich dafür. Einmal, als sie die Mutter beim Brote machen beobachtete, wie diese ein Stück Käse in den Mund steckte, wollte sie auch davon. Aber das Käsebrot wies sie mit der Bemerkung zurück, dass sie doch Käse ohne Brot gewollt hätte.
Hier im Osten hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine ganze Menge geändert, nicht alles war gut, fand sie. Aber Deutschland als Ganzheit gefiel ihr in den heutigen Grenzen. Wir in der DDR haben die Oder-Neiße-Grenze rechtzeitig respektieren gelernt. Gebietsansprüche an die Länder des Ostens lehnte sie als Großmachtgetue ab. Der eigene Sohn pflegte manchmal Bemerkungen zu machen, dass sie sich an den Kopf fassen musste. Die historischen Karten hatten es ihm angetan. Nach all den Geschehnissen im zweiten Weltkrieg konnte man nur froh sein, wenn Polen und Russen das wiedervereinte Deutschland nicht als Bedrohung empfanden.
Obwohl, dieses Wirtschaftssystem die Gesamtheit der Menschen hier sehr entzweite. Die berühmte Schere zwischen arm und reich, sie bekam sie selbst zu spüren jetzt im Alter. Die Rente wollte und wollte nicht reichen. Sie fühlte sich solidarisch mit den griechischen Rentnern, deren Rente gekürzt werden sollte. Wie konnten Deutsche so etwas verlangen? (Die alten Sprüche vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, waren wieder aufgetaucht.) Frau Merkel, das Pfarrerskind, war einfach zu spät geboren, sonst würde sie anders handeln und nicht die allmächtigen Konzerne für Pharma- und Rüstungsindustrie unterstützen, die doch schon genug an den Griechen verdient haben. Jetzt wird gemunkelt, dass es allen südlichen Ländern besser ginge, wenn Deutschland aus dem Euroverbund ausscheiden würde, jedenfalls käme keiner zu Schaden. Das hat nun diese Regierung davon, dass sie so unerbittlich kämpft!
Der Zug war gerade über Dessau hinaus. Dort hatte sie mal länger als drei Jahre gelebt. Zuerst bei den Eltern einer Freundin im schrägen Stübchen im Pfarrhaus, das nicht beheizbar war, später zur Untermiete bei einer Diakonisse. Das Zimmer hatte da wenigstens einen Kachelofen und auf einer elektrischen Kochplatte konnte sie Wasser für Kaffee und Tee kochen. Manchmal war trocken Brot in Zucker und Tee gebrockt das ganze Frühstück oder Abendbrot. Mit dem wenigen Lehrlingsentgeld allein auszukommen – schwierig. Mutter schickte ihr monatlich 20 Mark. Aber schon Butter allein war teuer für sie. Charlene lernte im Fotofachgeschäft, wollte Fotografin werden. Nicht so sehr aus eigenem Antrieb, es hatte sich so ergeben, weil der befragte Goldschmied keinen weiblichen Lehrling annehmen wollte, da die ja doch wegheiraten später.
Charlene hätte lieber mit ihren Händen etwas gestalten wollen, als in Dunkelkammern in Chemie zu wühlen. Damals musste man das noch, obwohl der Obermeister ihnen schon erzählte, dass diese Arbeit bald von Maschinen verrichtet werden würde in hellen Räumen. Von Digitalfotografie konnte er noch nichts ahnen. Und wie schon vorher bei den Diakonissen, als sie Paramentikerin werden wollte, Wolle spinnen, Paramente entwerfen und weben, Altartücher sticken und die Kirche schmücken, wo dann eine Pfarrerstochter mit Abitur ihr vorgezogen wurde und die Meisterin sie mobbte, dass sie von allein fortging, so hatte sie auch hier Pech. Plötzlich durften Lehrlinge ohne 10. Klasseabschluss per Gesetz nicht mehr Fotografen werden, nur noch Fotolaboranten und dann per Weiterbildung vorwärts. Sicher hätte sie das gemacht, aber dann ist sie kurz nach der Facharbeiterprüfung aus Liebeskummer aus der PGH ausgetreten und zur Mutter zurück geflüchtet.