Erinnerungen
Aber schon mit neun Jahren erwischte die Mutter sie an der verbotenen Nähmaschine, wo sie winzige Puppenkleider nähte. Das war ja noch keine elektrische, man musste mit den Füßen auf die verschnörkelte Metallgussplatte treten, um dem Räderwerk Schwung zu verleihen um die Nadel zu bewegen. Sie hatte der Mutter oft beim Nähen zugesehen und die staunte nun nicht schlecht, dass die Tochter es zuwege brachte. Zwar schimpfte sie nun nicht, aber Ermahnungen erfolgten selbstverständlich, nicht nur, weil die Nadel leicht hätte abbrechen können, sondern auch, weil etwas dabei hätte passieren können.
Charlene lächelte innerlich, als sie an die erste Schwägerin dachte, die junge Frau, die der ältere Bruder geheiratet hatte. Dieser war das Malheur passiert, sich beim Nähen und Nachschieben des Stoffes die Nadel durch den Finger zu jagen. Vor Schreck blieb sie so sitzen, bis ihr Mann nach Hause kam und wagte nicht, sich selbst zu helfen. Das war ihr selbst nicht mal als Kind passiert, aber dafür war sie auch so konzentriert und vertieft gewesen, dass sie die Mutter nicht hatte kommen hören.
Das Kind Charlene liebte Steine. Immer wieder bückte sie sich und die schönsten sammelte sie in einem alten Nähkasten, den man so nach außen verschieben konnte, dass drei Etagen einsehbar waren, sortiert nach Größen und Farben. Bis die Mutter in einem Wutanfall beim Aufräumen die ganze Sammlung in den ummauerten Aschebehälter, die sogenannte Aschenkute für das ganze Haus, entsorgte. Lene kroch durch die Luke hinein, aber da Steine schwerer sind als Asche, war eine Rettung unmöglich. Sie hatte bitterlich geweint und es ihrer Mutter lange nicht verzeihen können.
Jetzt stieg sie die fünf Stufen zum Eingangsportal hinauf und schaute oben über die Mauer. Die Aschenkute war abgerissen und es standen nur wie überall die Plastikaschekübel mit den Namen der Mieter dort. Allerdings waren hier noch keine Vorhängeschlösser dran, wie sie es vor anderen Mietshäusern gesehen hatte. Ja, heutzutage war die Müllabfuhr nicht mehr im Mietpreis inbegriffen, jede Familie muss selbst die Müllgebühren tragen.
Mit ebenfalls neun Jahren war Charlene damals dem Schwimmverein beigetreten. Sehr früh im Jahr suchten sie gemeinsam per Fahrrad das Freibad auf, um zu schwimmen. Da Leni sehr dünn war, mussten die größeren Mädchen sie lange frottieren, wenn sie aus dem Wasser kamen, um sie wieder warm zu kriegen. Weil hier in der Stadt damals keine Schwimmhalle existierte, turnten die Schwimmerinnen den ganzen Winter über in der Turnhalle des Gymnasiums an den Geräten. Sie lernte eine gute Körperbeherrschung, aber als die Mutter sie auf ihren Wunsch hin mit zwölf Jahren beim Ballett angemeldet hatte, traktierte die Ballettmeisterin sie immer wieder mit ihrem Stöckchen und monierte ihre „eckigen“ Bewegungen. Angeblich war sie auch zu klein gewachsen, um irgendwann einmal auf der Bühne zu stehen, darum gab sie es rasch wieder auf. Die Mutter sollte ja nicht dafür bezahlen, dass ihr Kind geschlagen wurde. Charlene hatte bemerkt, dass andere Mütter nicht nur bezahlten, sondern Pralinen und Likör mitbrachten. Deren Töchter wurden besser behandelt.
Lenes Mutter strickte viel. Sie konnte herrliche Muster aus Vorlagen nachstricken und saß manchmal bis in die Nacht darüber. Immer wurde sie in hübsche Stricksachen gekleidet. Alte Sachen wurden aufgedröselt und vom zweiten Mann ihrer Großmutter, einem Witwer mit nur noch einem Bein und einem Glasauge, so fest auf Knäule gewickelt, dass sie glattgezogen wurden und man nach dem Verarbeiten das Ribbelgarn nicht mehr von neuer Wolle unterscheiden konnte.
Als Charlene mit vierzehn ins Internat kam, liehen die anderen Mädchen sich schöne Pullover von ihr aus, um zum Fotografen zu gehen. Selbst brachte sie das Stricken nie zu ähnlicher Perfektion, weil die Zählerei ihr nicht lag, sie konnte sich schlecht darauf konzentrieren. Dafür entdeckte sie schon in der siebten Klasse, dass sie Vaters Zeichentalent geerbt hatte. Eine bewunderte Sitznachbarin wurde von ihr auf kariertem Papier porträtiert und war gut gelungen. Sie konnte auch gut mit der Schere umgehen. Mit fünfzehn hatte sie dann einen ganzen Lampenschirm mit schwarzen Scherenschnitten aus eigenen Entwürfen für den Geburtstag der Oberin im Mutterhaus der Cracauer Diakonissen gestalten dürfen. In der Zeit setzte die leitende Lehrschwester sie schon zu solchen künstlerischen Arbeiten ein, statt sie Fenster putzen oder Toiletten scheuern zu lassen, wie das in ihrem Kurs üblich war. Auch beim Sticken von Kissen war sie der Lehrschwester zu langsam, obwohl Lene das ganz gern und mit Eifer tat.
Charlene schaute noch einmal am Haus hoch zu den Fenstern im Giebel, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem jüngsten Bruder, um ihre Reisetasche abzuholen. Über die Bachbrücke konnten jetzt keine Autos mehr in die Bachstraße abbiegen, sie mussten ein Stück weiter in die Geschwister-Scholl-Straße fahren, dann links und dann noch einmal links und rechts einbiegen. Aber laufen durfte man noch über diese Brücke, unter der der Bach nach wie vor durch zwei Röhren fließt. Durch diese von einer Seite zur anderen zu kriechen, hatte immer als Mutprobe unter den Kindern gegolten. Leni hatte sich einige Blutegel von den nackten Beinen abmachen müssen, als sie drüben angekommen war. Barfuß im Bach zu stehen oder zu gehen war trotzdem im Sommer eine Wohltat an Kühle. Es schwammen auch immer Äpfel drin und kleine Fische, sogar Kaulquappen zu gewisser Zeit. Die Kinder liebten den Bach. Wasser ist anziehend.
An jeder Ecke Erinnerungen. Sie wusste, dass sie viel zu weit weg lebte, um später noch einmal in diese ihre Heimatstadt zu fahren. Es war ein Abschied für immer. Mit über siebzig fällt das schon gewissermaßen schwer, aber mit der vor zwei Jahren festgestellten Erkrankung würde sich auch die frühere Fitness nie wieder einstellen. Sie war froh, noch einmal hier gewesen zu sein. Bewusst Abschied zu nehmen schien ihr wichtig. Viele Abschiede hatte sie im Laufe des Lebens durchstehen müssen, nicht alle waren so durchdacht wie dieser.
Der Bruder war im Keller werkeln, so umarmte sie oben die Schwägerin und rief einen Gruß durch die Kellertür, denn sie scheute sich davor, die Stufen wieder hinaufgehen zu müssen. Oft stieß sie sich dabei schmerzhaft die Zehen an, weil die Achillessehnen nicht mehr richtig reagierten.
Aber der Bruder kam rasch herauf, ob er sie denn nicht zum Bahnhof fahren solle, er würde sich nur die Hände waschen gehen. Das nahm sie gern an.
Als Charlene im Zug saß und die bekannten Landschaften an ihr vorbeiflogen, erinnerte sie sich an vieles. Sonntagsausflüge per Fahrrad mit den Eltern in die Dübener Heide, Pilze oder Blaubeeren sammeln, schwimmen im Waldsee. Besuche im Wörlitzer Park mit all seinen Naturwundern, Brücken und Sichtachsen, Inseln und fremdem Baumbestand. Fahren mit der Wörlitzer Bahn bis Dessau, in die dortigen Parkanlagen mit Teehäuschen gehen und auf einem alten Friedhof mit großen Bäumen wandeln.
Mit den eigenen Kindern und deren Vater hatten sie ebenfalls Wörlitz besucht, da war Lenes Mutter noch dabei. Es gibt ein Foto, wo alle neben dem Auto im Gras sitzen und Kartoffelsalat essen. Dabei erzählte Mutti von einem Ausflug mit dem ältesten Bruder zum Ähren lesen nach dem Krieg. Sie hatte auch Kartoffelsalat mitgenommen und Kaffee. Der immer hungrige Ben war heimlich über das Essen hergefallen und als er merkte, dass es plötzlich so wenig aussah, hatte er kurzerhand Kaffee rein gekippt.
Hunger, ja, den kannten sie noch. Obwohl sie selbst immer eine schlechte Esserin gewesen sein soll damals. Vor Wut hatte die Mutter ihr einmal die Kartoffelsuppe über den Kopf geschüttet. Auf der Straße wurde sie gefragt, ob sie ihrer Tochter nichts zu essen gebe, weil die so dünn war, und sie schämte sich dafür. Einmal, als sie die Mutter beim Brote machen beobachtete, wie diese ein Stück Käse in den Mund steckte, wollte sie auch davon. Aber das Käsebrot wies sie mit der Bemerkung zurück, dass sie doch Käse ohne Brot gewollt hätte.
Hier im Osten hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine ganze Menge geändert, nicht alles war gut, fand sie. Aber Deutschland als Ganzheit gefiel ihr in den heutigen Grenzen. Wir in der DDR haben die Oder-Neiße-Grenze rechtzeitig respektieren gelernt. Gebietsansprüche an die Länder des Ostens lehnte sie als Großmachtgetue ab. Der eigene Sohn pflegte manchmal Bemerkungen zu machen, dass sie sich an den Kopf fassen musste. Die historischen Karten hatten es ihm angetan. Nach all den Geschehnissen im zweiten Weltkrieg konnte man nur froh sein, wenn Polen und Russen das wiedervereinte Deutschland nicht als Bedrohung empfanden.
Obwohl, dieses Wirtschaftssystem die Gesamtheit der Menschen hier sehr entzweite. Die berühmte Schere zwischen arm und reich, sie bekam sie selbst zu spüren jetzt im Alter. Die Rente wollte und wollte nicht reichen. Sie fühlte sich solidarisch mit den griechischen Rentnern, deren Rente gekürzt werden sollte. Wie konnten Deutsche so etwas verlangen? (Die alten Sprüche vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, waren wieder aufgetaucht.) Frau Merkel, das Pfarrerskind, war einfach zu spät geboren, sonst würde sie anders handeln und nicht die allmächtigen Konzerne für Pharma- und Rüstungsindustrie unterstützen, die doch schon genug an den Griechen verdient haben. Jetzt wird gemunkelt, dass es allen südlichen Ländern besser ginge, wenn Deutschland aus dem Euroverbund ausscheiden würde, jedenfalls käme keiner zu Schaden. Das hat nun diese Regierung davon, dass sie so unerbittlich kämpft!
Der Zug war gerade über Dessau hinaus. Dort hatte sie mal länger als drei Jahre gelebt. Zuerst bei den Eltern einer Freundin im schrägen Stübchen im Pfarrhaus, das nicht beheizbar war, später zur Untermiete bei einer Diakonisse. Das Zimmer hatte da wenigstens einen Kachelofen und auf einer elektrischen Kochplatte konnte sie Wasser für Kaffee und Tee kochen. Manchmal war trocken Brot in Zucker und Tee gebrockt das ganze Frühstück oder Abendbrot. Mit dem wenigen Lehrlingsentgeld allein auszukommen – schwierig. Mutter schickte ihr monatlich 20 Mark. Aber schon Butter allein war teuer für sie. Charlene lernte im Fotofachgeschäft, wollte Fotografin werden. Nicht so sehr aus eigenem Antrieb, es hatte sich so ergeben, weil der befragte Goldschmied keinen weiblichen Lehrling annehmen wollte, da die ja doch wegheiraten später.
Charlene hätte lieber mit ihren Händen etwas gestalten wollen, als in Dunkelkammern in Chemie zu wühlen. Damals musste man das noch, obwohl der Obermeister ihnen schon erzählte, dass diese Arbeit bald von Maschinen verrichtet werden würde in hellen Räumen. Von Digitalfotografie konnte er noch nichts ahnen. Und wie schon vorher bei den Diakonissen, als sie Paramentikerin werden wollte, Wolle spinnen, Paramente entwerfen und weben, Altartücher sticken und die Kirche schmücken, wo dann eine Pfarrerstochter mit Abitur ihr vorgezogen wurde und die Meisterin sie mobbte, dass sie von allein fortging, so hatte sie auch hier Pech. Plötzlich durften Lehrlinge ohne 10. Klasseabschluss per Gesetz nicht mehr Fotografen werden, nur noch Fotolaboranten und dann per Weiterbildung vorwärts. Sicher hätte sie das gemacht, aber dann ist sie kurz nach der Facharbeiterprüfung aus Liebeskummer aus der PGH ausgetreten und zur Mutter zurück geflüchtet.