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Charlenes Abschied 6

Studentenehe

Als ein Kind unterwegs war, heirateten sie, denn der war schon einmal wegen einer sexuellen Beziehung immatrikuliert gewesen und erst nach seinem NVA-Dienst wieder aufgenommen worden. Leider trieb er sich mit jüngeren Mädchen herum. Charlene wollte ihn bald nicht mehr, nachdem sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie reichte die Scheidung ein, doch plötzlich wollte er sie unbedingt behalten und eine Sitznachbarin überredete sie, dass sie die Scheidungsklage zurück nahm. Er beendete das Studium und wurde in einer nahen Stadt in einer Schule angestellt, bekam ein Riesenzimmer in einem Altbau zugewiesen, dort lebten sie dann gemeinsam. Jeden Tag fuhr sie in das Institut zu den Vorlesungen. Charlene ließ ihre Möbel aus der Heimatstadt kommen, sogar ein Klavier bekam sie geschenkt und stellte es dort auf.
Als sie damals mit zwölf Jahren das Ballett abbrach, begann sie Klavier zu spielen. Der Patenonkel Germans war Kirchenmusikdirektor und hatte sich bereit erklärt, sie für wenig Geld zu unterrichten, ein Klavier konnten sie von einer Familie mit vielen Kindern mieten, die es unterstellen wollten. Aber der Klavierlehrer hatte sich mit einer Orgelschülerin eingelassen, die ihn verehrte und liebte, sie wurde schwanger und hatte seine Frau aufgesucht, damit diese ihn „freigeben“ sollte. Diese Organistin in Künstlerformat hatte schon lange einen Hausfreund aus dem Theater, mit dem man sie auf gemeinsamen Spaziergängen sah. Aber das nun war ein Skandal. Er musste in einem kleinen Zimmer zu ebener Erde hausen, während Charlene die gelernten Stücke vorspielte, wusch er nebenan seine Töpfe ab und sie fühlte sich ziemlich beleidigt, weil sie immer wieder die gleichen dämlichen Tonleitern und kindischen Melodien spielen musste. Das gefiel ihr schon nicht, dann wurde er aus dem kirchlichen Dienst entlassen und musste seine neue kleine Familie, die dreiundzwanzigjährige Schülerin hatte Zwillinge geboren, als Repetitor beim Theater ernähren.
Trotzdem hatte Charlene immer wieder gern am Klavier fantasiert, jetzt wollte sie wieder neu spielen lernen. Sie fuhr jeden Tag mit der Straßenbahn oder mit Zug und Straßenbahn zum Studienort und zurück. Ihr Mann war wohl mit seinem Sportunterricht an der Schule nicht ausgelastet, er machte wieder Bekanntschaften.

Eines Tages fand Lene ihren Kleiderschrank verschlossen vor und öffnete ihn natürlich neugierig. Darin fand sie eine Reisetasche mit Frauenkleidung und den Personalausweis eines Mädchens. Da wusste sie, dass sie ihn diesmal zwingen würde, die Scheidung einzureichen und das klappte nach einigem Hin und Her auch. So war diese Studentenehe nach etwa einem Jahr beendet, sie lebte allein in dem Wohnraum und wurde nach dem Staatsexamen auch in dieser Stadt eingesetzt.
Bei der Wahl ihrer Männer hatte Charlene also von Anfang an kein Glück gehabt, im Nachhinein fand sie sich naiv und dumm. Aber damals, als ihr großer Bruder sie schon mit vierzehn an einen reichen Erben verkuppeln wollte und ihr vorschwärmte, wie gut es sich als begüterter Mensch leben würde, konnte sie schon diesen Lackaffen da nicht akzeptieren. Sie wollte nur immer jemanden, den sie schön und anziehend fand. Der Halbbruder sah damals toll aus mit seinen schwarzen Haaren und blauen Augen. Sie musste sich seiner Zuneigung entziehen, als er darauf gedrungen hatte, ihre großen Brüste anzusehen und die auch noch anfassen wollte. Die Mutter hatte ihn ja gleich nach der Geburt in Pflege gegeben, vielleicht nicht mal gestillt, dieser animalische Trieb nach fremden Brüsten zu greifen lag wohl darin begründet. Aber das wusste sie nicht und hätte sie es auch gewusst, wäre sie doch empört zurückgewichen, wie sie es tat, obwohl sie gerne Hand in Hand mit ihm spazieren ging, auch noch, als er sie bei den Diakonissen besuchen kam. Alle glaubten immer. er sei ihr Freund und sie lachten gemeinsam darüber.
Dem jetzigen dritten Ehemann war sie mit siebzig ausgerissen, weil er sie so lieblos behandelt hatte. Vor seelischem Kummer wog sie bei der Trennung nur noch fünfundvierzig Kilogramm und war elend. Aber in den letzten zwei Jahren hatte sie wieder dreizehn Kilo zugenommen. Ja, um keine kleine Pummelige zu werden mit ihren 158 Zentimetern Körperhöhe, passte sie auf, nicht weiter zuzunehmen und ernährte sich sehr gesund, meist sogar vegan.
Fernab von ihrem Traumgrundstück mit Häuschen am Waldrand, Garten, Hund und Katze lebte sie nun, wo sie eigentlich nur mit den Füßen voran dort wieder ausziehen wollte. Vor Jahren einmal, als sie ihren Mann bat, ja niemals auf ihren Grabstein zu schreiben, dass sie eine „nette“ Frau gewesen sei, hatte er ihr gesagt, dass er schreiben würde, dass sie hatten gemeinsam alt werden wollen. So ändern sich die Dinge eben und die Menschen mit ihren Ansichten. Zu anderen Leuten äußerte er sich nun, sie hätten sich „auseinandergelebt“. Sie selbst würde sagen „auseinanderentwickelt“.
Nie wollte sie allein und in der Fremde leben, wie jetzt. Nicht, dass es ihr langweilig wäre, sie hatte immer etwas vor, aber im Alter ohne Partnerschaft zu sein, das hätte sie sich nie gewünscht. Mit einem Trinker zu leben ging aber auf die Dauer nicht, konnte nicht klappen, wenn man empfindlich war wie sie. Die Trauer darüber, für niemanden mehr der wichtigste Mensch sein zu dürfen, gehörte schon lange zu ihrem Wesen. Seit sie erkannt hatte, dass mit ihrem Mann keine Intimität, damit meinte sie natürlich nicht nur die körperliche Liebe, möglich war, weil die gemeinsamen Ideale nur bis zum Erwerb dieses Grundstücks und Häuschens am Waldrand gereicht hatten. Nicht allein leben wollen im Alter und anfangs auch der Wunsch, sich autark zu versorgen, hatte sie die ganze Zeit verbunden. Doch nun spielte ein völlig entgegengesetzter Inhalt des Wie eine desaströse Rolle. Sie hätte es ahnen können, denn er war mit niemandem wirklich befreundet. Wer selbst kein Freund sein konnte, wie wollte er als älterer Mensch mit einer Partnerin leben? Er hatte nur Saufkumpane, na ja, vielleicht waren auch einige Gelegenheitstrinker dabei.