Archiv für den Monat: August 2015

Unsicherheit

Nach der Wohnungsbesichtigung in der Kartäuserstraße warten wir nun auf Bestätigung oder Absage. Ich habe momentan einige Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit und hoffe sehr, wenn das nervlich ist und mit der Unsicherheit zusammenhängt, dass die Entscheidung bald fällt.

Auch der eigentlich gute Fortschritt mit meiner neuen Erzählung verunsichert mich, wollte doch etwas weitaus lockereres Lustiges schreiben, aber es ist immer wieder viel Ernstes darin. Es hat viel zu viele Geschehnisse, die niemals locker und leicht vorübergehen. Aber ich will das jetzt lernen, wie es gehen muss.

Schaun wir mal!

Charlenes Abschied 6

Studentenehe

Als ein Kind unterwegs war, heirateten sie, denn der war schon einmal wegen einer sexuellen Beziehung immatrikuliert gewesen und erst nach seinem NVA-Dienst wieder aufgenommen worden. Leider trieb er sich mit jüngeren Mädchen herum. Charlene wollte ihn bald nicht mehr, nachdem sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie reichte die Scheidung ein, doch plötzlich wollte er sie unbedingt behalten und eine Sitznachbarin überredete sie, dass sie die Scheidungsklage zurück nahm. Er beendete das Studium und wurde in einer nahen Stadt in einer Schule angestellt, bekam ein Riesenzimmer in einem Altbau zugewiesen, dort lebten sie dann gemeinsam. Jeden Tag fuhr sie in das Institut zu den Vorlesungen. Charlene ließ ihre Möbel aus der Heimatstadt kommen, sogar ein Klavier bekam sie geschenkt und stellte es dort auf.
Als sie damals mit zwölf Jahren das Ballett abbrach, begann sie Klavier zu spielen. Der Patenonkel Germans war Kirchenmusikdirektor und hatte sich bereit erklärt, sie für wenig Geld zu unterrichten, ein Klavier konnten sie von einer Familie mit vielen Kindern mieten, die es unterstellen wollten. Aber der Klavierlehrer hatte sich mit einer Orgelschülerin eingelassen, die ihn verehrte und liebte, sie wurde schwanger und hatte seine Frau aufgesucht, damit diese ihn „freigeben“ sollte. Diese Organistin in Künstlerformat hatte schon lange einen Hausfreund aus dem Theater, mit dem man sie auf gemeinsamen Spaziergängen sah. Aber das nun war ein Skandal. Er musste in einem kleinen Zimmer zu ebener Erde hausen, während Charlene die gelernten Stücke vorspielte, wusch er nebenan seine Töpfe ab und sie fühlte sich ziemlich beleidigt, weil sie immer wieder die gleichen dämlichen Tonleitern und kindischen Melodien spielen musste. Das gefiel ihr schon nicht, dann wurde er aus dem kirchlichen Dienst entlassen und musste seine neue kleine Familie, die dreiundzwanzigjährige Schülerin hatte Zwillinge geboren, als Repetitor beim Theater ernähren.
Trotzdem hatte Charlene immer wieder gern am Klavier fantasiert, jetzt wollte sie wieder neu spielen lernen. Sie fuhr jeden Tag mit der Straßenbahn oder mit Zug und Straßenbahn zum Studienort und zurück. Ihr Mann war wohl mit seinem Sportunterricht an der Schule nicht ausgelastet, er machte wieder Bekanntschaften.

Eines Tages fand Lene ihren Kleiderschrank verschlossen vor und öffnete ihn natürlich neugierig. Darin fand sie eine Reisetasche mit Frauenkleidung und den Personalausweis eines Mädchens. Da wusste sie, dass sie ihn diesmal zwingen würde, die Scheidung einzureichen und das klappte nach einigem Hin und Her auch. So war diese Studentenehe nach etwa einem Jahr beendet, sie lebte allein in dem Wohnraum und wurde nach dem Staatsexamen auch in dieser Stadt eingesetzt.
Bei der Wahl ihrer Männer hatte Charlene also von Anfang an kein Glück gehabt, im Nachhinein fand sie sich naiv und dumm. Aber damals, als ihr großer Bruder sie schon mit vierzehn an einen reichen Erben verkuppeln wollte und ihr vorschwärmte, wie gut es sich als begüterter Mensch leben würde, konnte sie schon diesen Lackaffen da nicht akzeptieren. Sie wollte nur immer jemanden, den sie schön und anziehend fand. Der Halbbruder sah damals toll aus mit seinen schwarzen Haaren und blauen Augen. Sie musste sich seiner Zuneigung entziehen, als er darauf gedrungen hatte, ihre großen Brüste anzusehen und die auch noch anfassen wollte. Die Mutter hatte ihn ja gleich nach der Geburt in Pflege gegeben, vielleicht nicht mal gestillt, dieser animalische Trieb nach fremden Brüsten zu greifen lag wohl darin begründet. Aber das wusste sie nicht und hätte sie es auch gewusst, wäre sie doch empört zurückgewichen, wie sie es tat, obwohl sie gerne Hand in Hand mit ihm spazieren ging, auch noch, als er sie bei den Diakonissen besuchen kam. Alle glaubten immer. er sei ihr Freund und sie lachten gemeinsam darüber.
Dem jetzigen dritten Ehemann war sie mit siebzig ausgerissen, weil er sie so lieblos behandelt hatte. Vor seelischem Kummer wog sie bei der Trennung nur noch fünfundvierzig Kilogramm und war elend. Aber in den letzten zwei Jahren hatte sie wieder dreizehn Kilo zugenommen. Ja, um keine kleine Pummelige zu werden mit ihren 158 Zentimetern Körperhöhe, passte sie auf, nicht weiter zuzunehmen und ernährte sich sehr gesund, meist sogar vegan.
Fernab von ihrem Traumgrundstück mit Häuschen am Waldrand, Garten, Hund und Katze lebte sie nun, wo sie eigentlich nur mit den Füßen voran dort wieder ausziehen wollte. Vor Jahren einmal, als sie ihren Mann bat, ja niemals auf ihren Grabstein zu schreiben, dass sie eine „nette“ Frau gewesen sei, hatte er ihr gesagt, dass er schreiben würde, dass sie hatten gemeinsam alt werden wollen. So ändern sich die Dinge eben und die Menschen mit ihren Ansichten. Zu anderen Leuten äußerte er sich nun, sie hätten sich „auseinandergelebt“. Sie selbst würde sagen „auseinanderentwickelt“.
Nie wollte sie allein und in der Fremde leben, wie jetzt. Nicht, dass es ihr langweilig wäre, sie hatte immer etwas vor, aber im Alter ohne Partnerschaft zu sein, das hätte sie sich nie gewünscht. Mit einem Trinker zu leben ging aber auf die Dauer nicht, konnte nicht klappen, wenn man empfindlich war wie sie. Die Trauer darüber, für niemanden mehr der wichtigste Mensch sein zu dürfen, gehörte schon lange zu ihrem Wesen. Seit sie erkannt hatte, dass mit ihrem Mann keine Intimität, damit meinte sie natürlich nicht nur die körperliche Liebe, möglich war, weil die gemeinsamen Ideale nur bis zum Erwerb dieses Grundstücks und Häuschens am Waldrand gereicht hatten. Nicht allein leben wollen im Alter und anfangs auch der Wunsch, sich autark zu versorgen, hatte sie die ganze Zeit verbunden. Doch nun spielte ein völlig entgegengesetzter Inhalt des Wie eine desaströse Rolle. Sie hätte es ahnen können, denn er war mit niemandem wirklich befreundet. Wer selbst kein Freund sein konnte, wie wollte er als älterer Mensch mit einer Partnerin leben? Er hatte nur Saufkumpane, na ja, vielleicht waren auch einige Gelegenheitstrinker dabei.

Neue Erzählung begonnen

Die herrlich verrückte Welt der Cheryl Goldinger

Im Lotto gewonnen, sag bloß?! Bist du nicht glücklich?
Geld macht nicht glücklich, weil Dinge nicht glücklich machen, nur die Beziehungen zu Menschen oder Dingen.
Mensch, bist du schlau.
Nee, bloß klug vielleicht.
Aber Geld muss man ausgeben.
Klar, werde ich das auch, wie verrückt, planmäßig und gezielt.
Du hast Träume.
Immer schon gehabt. Seinen Traum soll man leben, Scheißspruch, aber wahr.
Gibst du deinen Gerümpelladen auf?
Spinnst du? Überhaupt „Gerümpel“, du redest `ne ganze Blechkolonne.
Na, Bücher über Bücher, alte Tischchen, olle Kommoden und Schränkchen, die dir kaum mal jemand abkauft.
Meine Bilder auch Gerümpel? Wegen denen kommst du doch immer wieder.
Auch. Vor allen Dingen deinetwegen.
Dass ich nicht lache. Deine Frau ist bitterböse auf mich, ich würde dich dazu verführen, das Geld für Müll auszugeben.
Die versteht eben nichts von Kunst und Künstlern.
Du bist einer, ein Hungerkünstler mit Hund.
Kann eben nur Krimis. – Und du ´ne Ladenbesitzerin mit ´nem Knall und sieben Katzen.
Die magst du doch, bringst immer was mit für die.
Um mich bei dir einzukratzen.
Nu is aber genug. Ab durch die Mitte.

Charlenes Abschied 1

Erinnerungen

Aber schon mit neun Jahren erwischte die Mutter sie an der verbotenen Nähmaschine, wo sie winzige Puppenkleider nähte. Das war ja noch keine elektrische, man musste mit den Füßen auf die verschnörkelte Metallgussplatte treten, um dem Räderwerk Schwung zu verleihen um die Nadel zu bewegen. Sie hatte der Mutter oft beim Nähen zugesehen und die staunte nun nicht schlecht, dass die Tochter es zuwege brachte. Zwar schimpfte sie nun nicht, aber Ermahnungen erfolgten selbstverständlich, nicht nur, weil die Nadel leicht hätte abbrechen können, sondern auch, weil etwas dabei hätte passieren können.
Charlene lächelte innerlich, als sie an die erste Schwägerin dachte, die junge Frau, die der ältere Bruder geheiratet hatte. Dieser war das Malheur passiert, sich beim Nähen und Nachschieben des Stoffes die Nadel durch den Finger zu jagen. Vor Schreck blieb sie so sitzen, bis ihr Mann nach Hause kam und wagte nicht, sich selbst zu helfen. Das war ihr selbst nicht mal als Kind passiert, aber dafür war sie auch so konzentriert und vertieft gewesen, dass sie die Mutter nicht hatte kommen hören.
Das Kind Charlene liebte Steine. Immer wieder bückte sie sich und die schönsten sammelte sie in einem alten Nähkasten, den man so nach außen verschieben konnte, dass drei Etagen einsehbar waren, sortiert nach Größen und Farben. Bis die Mutter in einem Wutanfall beim Aufräumen die ganze Sammlung in den ummauerten Aschebehälter, die sogenannte Aschenkute für das ganze Haus, entsorgte. Lene kroch durch die Luke hinein, aber da Steine schwerer sind als Asche, war eine Rettung unmöglich. Sie hatte bitterlich geweint und es ihrer Mutter lange nicht verzeihen können.
Jetzt stieg sie die fünf Stufen zum Eingangsportal hinauf und schaute oben über die Mauer. Die Aschenkute war abgerissen und es standen nur wie überall die Plastikaschekübel mit den Namen der Mieter dort. Allerdings waren hier noch keine Vorhängeschlösser dran, wie sie es vor anderen Mietshäusern gesehen hatte. Ja, heutzutage war die Müllabfuhr nicht mehr im Mietpreis inbegriffen, jede Familie muss selbst die Müllgebühren tragen.
Mit ebenfalls neun Jahren war Charlene damals dem Schwimmverein beigetreten. Sehr früh im Jahr suchten sie gemeinsam per Fahrrad das Freibad auf, um zu schwimmen. Da Leni sehr dünn war, mussten die größeren Mädchen sie lange frottieren, wenn sie aus dem Wasser kamen, um sie wieder warm zu kriegen. Weil hier in der Stadt damals keine Schwimmhalle existierte, turnten die Schwimmerinnen den ganzen Winter über in der Turnhalle des Gymnasiums an den Geräten. Sie lernte eine gute Körperbeherrschung, aber als die Mutter sie auf ihren Wunsch hin mit zwölf Jahren beim Ballett angemeldet hatte, traktierte die Ballettmeisterin sie immer wieder mit ihrem Stöckchen und monierte ihre „eckigen“ Bewegungen. Angeblich war sie auch zu klein gewachsen, um irgendwann einmal auf der Bühne zu stehen, darum gab sie es rasch wieder auf. Die Mutter sollte ja nicht dafür bezahlen, dass ihr Kind geschlagen wurde. Charlene hatte bemerkt, dass andere Mütter nicht nur bezahlten, sondern Pralinen und Likör mitbrachten. Deren Töchter wurden besser behandelt.
Lenes Mutter strickte viel. Sie konnte herrliche Muster aus Vorlagen nachstricken und saß manchmal bis in die Nacht darüber. Immer wurde sie in hübsche Stricksachen gekleidet. Alte Sachen wurden aufgedröselt und vom zweiten Mann ihrer Großmutter, einem Witwer mit nur noch einem Bein und einem Glasauge, so fest auf Knäule gewickelt, dass sie glattgezogen wurden und man nach dem Verarbeiten das Ribbelgarn nicht mehr von neuer Wolle unterscheiden konnte.
Als Charlene mit vierzehn ins Internat kam, liehen die anderen Mädchen sich schöne Pullover von ihr aus, um zum Fotografen zu gehen. Selbst brachte sie das Stricken nie zu ähnlicher Perfektion, weil die Zählerei ihr nicht lag, sie konnte sich schlecht darauf konzentrieren. Dafür entdeckte sie schon in der siebten Klasse, dass sie Vaters Zeichentalent geerbt hatte. Eine bewunderte Sitznachbarin wurde von ihr auf kariertem Papier porträtiert und war gut gelungen. Sie konnte auch gut mit der Schere umgehen. Mit fünfzehn hatte sie dann einen ganzen Lampenschirm mit schwarzen Scherenschnitten aus eigenen Entwürfen für den Geburtstag der Oberin im Mutterhaus der Cracauer Diakonissen gestalten dürfen. In der Zeit setzte die leitende Lehrschwester sie schon zu solchen künstlerischen Arbeiten ein, statt sie Fenster putzen oder Toiletten scheuern zu lassen, wie das in ihrem Kurs üblich war. Auch beim Sticken von Kissen war sie der Lehrschwester zu langsam, obwohl Lene das ganz gern und mit Eifer tat.
Charlene schaute noch einmal am Haus hoch zu den Fenstern im Giebel, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem jüngsten Bruder, um ihre Reisetasche abzuholen. Über die Bachbrücke konnten jetzt keine Autos mehr in die Bachstraße abbiegen, sie mussten ein Stück weiter in die Geschwister-Scholl-Straße fahren, dann links und dann noch einmal links und rechts einbiegen. Aber laufen durfte man noch über diese Brücke, unter der der Bach nach wie vor durch zwei Röhren fließt. Durch diese von einer Seite zur anderen zu kriechen, hatte immer als Mutprobe unter den Kindern gegolten. Leni hatte sich einige Blutegel von den nackten Beinen abmachen müssen, als sie drüben angekommen war. Barfuß im Bach zu stehen oder zu gehen war trotzdem im Sommer eine Wohltat an Kühle. Es schwammen auch immer Äpfel drin und kleine Fische, sogar Kaulquappen zu gewisser Zeit. Die Kinder liebten den Bach. Wasser ist anziehend.
An jeder Ecke Erinnerungen. Sie wusste, dass sie viel zu weit weg lebte, um später noch einmal in diese ihre Heimatstadt zu fahren. Es war ein Abschied für immer. Mit über siebzig fällt das schon gewissermaßen schwer, aber mit der vor zwei Jahren festgestellten Erkrankung würde sich auch die frühere Fitness nie wieder einstellen. Sie war froh, noch einmal hier gewesen zu sein. Bewusst Abschied zu nehmen schien ihr wichtig. Viele Abschiede hatte sie im Laufe des Lebens durchstehen müssen, nicht alle waren so durchdacht wie dieser.
Der Bruder war im Keller werkeln, so umarmte sie oben die Schwägerin und rief einen Gruß durch die Kellertür, denn sie scheute sich davor, die Stufen wieder hinaufgehen zu müssen. Oft stieß sie sich dabei schmerzhaft die Zehen an, weil die Achillessehnen nicht mehr richtig reagierten.
Aber der Bruder kam rasch herauf, ob er sie denn nicht zum Bahnhof fahren solle, er würde sich nur die Hände waschen gehen. Das nahm sie gern an.
Als Charlene im Zug saß und die bekannten Landschaften an ihr vorbeiflogen, erinnerte sie sich an vieles. Sonntagsausflüge per Fahrrad mit den Eltern in die Dübener Heide, Pilze oder Blaubeeren sammeln, schwimmen im Waldsee. Besuche im Wörlitzer Park mit all seinen Naturwundern, Brücken und Sichtachsen, Inseln und fremdem Baumbestand. Fahren mit der Wörlitzer Bahn bis Dessau, in die dortigen Parkanlagen mit Teehäuschen gehen und auf einem alten Friedhof mit großen Bäumen wandeln.
Mit den eigenen Kindern und deren Vater hatten sie ebenfalls Wörlitz besucht, da war Lenes Mutter noch dabei. Es gibt ein Foto, wo alle neben dem Auto im Gras sitzen und Kartoffelsalat essen. Dabei erzählte Mutti von einem Ausflug mit dem ältesten Bruder zum Ähren lesen nach dem Krieg. Sie hatte auch Kartoffelsalat mitgenommen und Kaffee. Der immer hungrige Ben war heimlich über das Essen hergefallen und als er merkte, dass es plötzlich so wenig aussah, hatte er kurzerhand Kaffee rein gekippt.
Hunger, ja, den kannten sie noch. Obwohl sie selbst immer eine schlechte Esserin gewesen sein soll damals. Vor Wut hatte die Mutter ihr einmal die Kartoffelsuppe über den Kopf geschüttet. Auf der Straße wurde sie gefragt, ob sie ihrer Tochter nichts zu essen gebe, weil die so dünn war, und sie schämte sich dafür. Einmal, als sie die Mutter beim Brote machen beobachtete, wie diese ein Stück Käse in den Mund steckte, wollte sie auch davon. Aber das Käsebrot wies sie mit der Bemerkung zurück, dass sie doch Käse ohne Brot gewollt hätte.
Hier im Osten hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine ganze Menge geändert, nicht alles war gut, fand sie. Aber Deutschland als Ganzheit gefiel ihr in den heutigen Grenzen. Wir in der DDR haben die Oder-Neiße-Grenze rechtzeitig respektieren gelernt. Gebietsansprüche an die Länder des Ostens lehnte sie als Großmachtgetue ab. Der eigene Sohn pflegte manchmal Bemerkungen zu machen, dass sie sich an den Kopf fassen musste. Die historischen Karten hatten es ihm angetan. Nach all den Geschehnissen im zweiten Weltkrieg konnte man nur froh sein, wenn Polen und Russen das wiedervereinte Deutschland nicht als Bedrohung empfanden.
Obwohl, dieses Wirtschaftssystem die Gesamtheit der Menschen hier sehr entzweite. Die berühmte Schere zwischen arm und reich, sie bekam sie selbst zu spüren jetzt im Alter. Die Rente wollte und wollte nicht reichen. Sie fühlte sich solidarisch mit den griechischen Rentnern, deren Rente gekürzt werden sollte. Wie konnten Deutsche so etwas verlangen? (Die alten Sprüche vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, waren wieder aufgetaucht.) Frau Merkel, das Pfarrerskind, war einfach zu spät geboren, sonst würde sie anders handeln und nicht die allmächtigen Konzerne für Pharma- und Rüstungsindustrie unterstützen, die doch schon genug an den Griechen verdient haben. Jetzt wird gemunkelt, dass es allen südlichen Ländern besser ginge, wenn Deutschland aus dem Euroverbund ausscheiden würde, jedenfalls käme keiner zu Schaden. Das hat nun diese Regierung davon, dass sie so unerbittlich kämpft!
Der Zug war gerade über Dessau hinaus. Dort hatte sie mal länger als drei Jahre gelebt. Zuerst bei den Eltern einer Freundin im schrägen Stübchen im Pfarrhaus, das nicht beheizbar war, später zur Untermiete bei einer Diakonisse. Das Zimmer hatte da wenigstens einen Kachelofen und auf einer elektrischen Kochplatte konnte sie Wasser für Kaffee und Tee kochen. Manchmal war trocken Brot in Zucker und Tee gebrockt das ganze Frühstück oder Abendbrot. Mit dem wenigen Lehrlingsentgeld allein auszukommen – schwierig. Mutter schickte ihr monatlich 20 Mark. Aber schon Butter allein war teuer für sie. Charlene lernte im Fotofachgeschäft, wollte Fotografin werden. Nicht so sehr aus eigenem Antrieb, es hatte sich so ergeben, weil der befragte Goldschmied keinen weiblichen Lehrling annehmen wollte, da die ja doch wegheiraten später.
Charlene hätte lieber mit ihren Händen etwas gestalten wollen, als in Dunkelkammern in Chemie zu wühlen. Damals musste man das noch, obwohl der Obermeister ihnen schon erzählte, dass diese Arbeit bald von Maschinen verrichtet werden würde in hellen Räumen. Von Digitalfotografie konnte er noch nichts ahnen. Und wie schon vorher bei den Diakonissen, als sie Paramentikerin werden wollte, Wolle spinnen, Paramente entwerfen und weben, Altartücher sticken und die Kirche schmücken, wo dann eine Pfarrerstochter mit Abitur ihr vorgezogen wurde und die Meisterin sie mobbte, dass sie von allein fortging, so hatte sie auch hier Pech. Plötzlich durften Lehrlinge ohne 10. Klasseabschluss per Gesetz nicht mehr Fotografen werden, nur noch Fotolaboranten und dann per Weiterbildung vorwärts. Sicher hätte sie das gemacht, aber dann ist sie kurz nach der Facharbeiterprüfung aus Liebeskummer aus der PGH ausgetreten und zur Mutter zurück geflüchtet.

Charlenes Abschied 7

Freundschaften und anderes

Sie selbst bewahrte ihre Freundschaften in Treue über viele Jahre. Menschen, mit denen sie einmal innere Übereinstimmung fand, blieben für immer wichtig. Darum fühlte sie sich auch nie wirklich einsam. Egal wieviel Zeit auch vergehen mochte, sie wusste, es bedurfte nur eines aufeinander Zugehens, um die alte Vertrautheit wieder herzustellen, und das trotz aller räumlichen Entfernungen. An ihren Geburtsort band sie keine Freundschaft, nur familiäre Bande. Erst mit der Ablösung von der Mutter waren tiefere Beziehungen entstanden. Jetzt wurden die Verbindungen ob alt oder neu nicht nur über Post und Telefon, sondern auch über das Internet gepflegt, man konnte sich ja sogar sehen beim Telefonieren über Skype. Seit Charlene 1999 ihren ersten PC als Schreibmaschinenersatz erworben hatte, entwickelte sie damit einige Kompetenz.
Aber nun lebte sie wenigstens nicht mehr so weit von den geliebten Kindern entfernt. Wöchentlich ein Besuch war zwar nicht viel, aber solange sie sich selbst versorgen konnte und beide per Telefon rasch zu erreichen und wenn nötig binnen kurzer Zeit per Auto bei ihr waren, fand sie es richtig. Die Tochter war zur näheren Bezugsperson geworden, auf die sie nicht mehr verzichten wollte. Die hatte eine neue Arbeit angenommen und zog nun in den Taunuskreis. Dorthin würde auch sie gehen, dort hatte ihre eigene Mutter vor dem Krieg mit ihrer Herkunftsfamilie gewohnt. Dass nun Tochter und Enkelin hinkamen, war fast eine Heimkehr.
Ihre Mutter Helene heiratete nach Sachsen-Anhalt um ihrem außerehelichen Sohn Ben einen Vater zu geben. German Lange ehelichte sie nicht nur, er adoptierte sogar Ben sofort. Als nun die Heimat nach dem Krieg nur noch ein oder zwei Mal schwarz über die grüne Grenze erreichbar war, hatte Charlene die Großmutter Johanne und den Taunus erlebt, war barfüßig auf den Feldberg gewandert und hatte mit Mutters Freundin Clara den Schwarzwald erlebt. Später ersetzten Thüringen und der Harz diese Landschaften, die immer Helenes Sehnsucht blieben, bis sie Rentnerin war und wieder in den Westen reisen durfte. Aber da lebten ihre Eltern nicht mehr und die Schwestern waren ihr böse, weil sie sich mit ihrem Mann ausgesöhnt hatte, der damals, als er im Osten nicht von Tbc geheilt werden konnte, nach drüben ging und sich operieren ließ. In der Folgezeit lebte er mit einer anderen Frau zusammen, einer Witwe. Die Eltern ließen sich nie scheiden, obwohl die Mutter es damals ablehnte, ihm zu folgen mit den Kindern. Sie hatte sich ein Umfeld geschaffen, in dem sie geachtet und anerkannt war, dort blieb sie und erzog ihre Kinder allein. Die Schwestern und Freundinnen hatten regelmäßig Pakete gesandt, ohne die sie alle diese schwierige Zeit viel weniger gut überstanden hätten. Vielleicht hatten sie, um die Pakete packen zu können, auf manches verzichtet, darum verziehen sie German Lange nie. Als die Mutter mit ihm vor der Tür stand, schlugen sie ihr vor der Nase die Türe zu.
Während einer Wanderung im Taunus brach sich Helene bei einem leichten Fußumknicken den Oberschenkelhals und kam in ein Krankenhaus. Ben wurde von dort informiert und gefragt, ob er einer gründlichen Untersuchung seiner Mutter zustimme. Dabei waren dann die vielen Metastasen, die sich nach dem operierten Brustkrebs im ganzen Körper gebildet hatten, entdeckt worden. German saß im Krankenhaus an Helenes Bett, er wusste Bescheid. Als Charlene und die anderen Brüder es erfuhren, hatte sie nur noch ein Jahr zu leben. Die Saarpfalz mit ihren Wäldern und Bergen, Streuobstwiesen und weiten Feldern, wären für sie ebenso schön gewesen, wie sie es fünfundzwanzig Jahre lang für Charlene gewesen waren. Der Abschied war schwer gewesen. Sind fünfundzwanzig Jahre nicht eine Generation?
Abschied. Mutterseelenallein unterwegs. Hätte sie das alles vorher gewusst, wäre sie wohl wie Helene in Sachsen-Anhalt geblieben und hätte weiter ihr Ziel verfolgt, sich als Textilmalerin selbständig zu machen. Aber die Wende, durch die alle Gesetze der ehemaligen DDR außer Kraft gesetzt waren und in den Behörden auf neue Gesetze gewartet wurde, hatte sie an das Sozialamt verwiesen. Sie, die ihr Leben lang ihr Brot für sich und die Kinder selbst erarbeitet hatte, war wie betäubt einem fremden Wessi in dessen Welt gefolgt, in der Hoffnung, wieder Geld mit eigener Hände Arbeit zu verdienen. Sie konnte nicht begreifen, dass das Arbeitsamt dort sie in eine Fabrik ans Förderband schicken wollte, schließlich war sie Lehrerin gewesen. Nur aus gesundheitlichen Gründen wollte sie nicht mehr in einer Schule arbeiten. Fabrik war doch noch schlimmer! Dass die polnische Ärztin das ebenfalls musste, wie man ihr sagte, konnte sie absolut nicht als Tröstung empfinden. Sie war doch eine Deutsche! Aber nun Deutsche zweiter Klasse, ein Ossi. Sie bekam es überall zu spüren.
So nahm sie die ungeliebte Arbeit in der Gasthausküche des Wessis Arnd auf. Der führte sie als Hilfskraft, obwohl sie völlig selbständig arbeitete. Kochen lernte sie schon mit fünfzehn bei den Diakonissen. In der eigenen Küche beim Kochen für sich und die Kinder war sie zur Feinschmeckerin geworden. Ihrer Nase entging nichts. In der Tätigkeit entwickelte sie ihre Fähigkeiten weiter und konnte bald Vier- bis Fünf-Gänge-Menüs für vierzig Personen zubereiten, für kleinere Gruppen gar acht Gänge. Sie erhielt viel Lob, die Gäste kamen in die Küche, um mit ihr anzustoßen und die Leute kamen immer wieder. Schon ein hübsch zurechtgemachter Salat ließ den Gästen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihre Italienischen Salate waren ein Augenschmaus getreu dem Motto: Die Augen essen mit.
Doch ihr Körper war für schwere Arbeiten nicht geschaffen. Nun hatte sie die Folgen zu tragen für das Bewegen von schweren Pfannen und Töpfen. Arthrose in den Armen, zuerst operierte man sie wegen Tennisarmen, war falsche Diagnose und half natürlich nicht. Und nun noch die schwerere Erkrankung, wegen der das Zerwürfnis mit Arnd seinen Höhepunkt erreicht hatte. Charlene legte jetzt die Füße auf den Sitz gegenüber, es war genügend Platz im Zug.
Wahrhaftig, menschlich und kritisch – das war jetzt ihr Kredo. Wenn schon der Sozialismus als Fehlschlag gilt, so hat es doch andere Deutsche geformt, dachte sie. Bessere? Das Volk auf dem Boden der DDR hatte sich auf das Lesen verstanden. Wer liest, versteht mehr von der Welt, wenn auch zuerst die Weltläufigkeit aus Mangel an Anschauung gering war. Irgendwo musste sich dann jeder beweisen, was oft schwer fiel, oft immer noch schwer ist. Die jungen Leute werden die Zukunft ändern, hofft sie, Kritik üben an den Unzulänglichkeiten wie gewohnt und zupacken. Die wollen ihr Leben nicht im „Knast der Arbeit“ verbringen, sondern in Übereinstimmung mit ihren Emotionen und Bedürfnissen schöpferisch im Team schaffen. Kooperation ist vielen wichtiger als Wettbewerb und gute Posten, das Familienleben, Urlaub und Reisen kann man nur genießen, meinen sie, wenn der Alltagsstress sie nicht vorher krank macht. Sie mögen keine Chefs, die ihnen die Arbeit aus mehreren, nicht mehr bezahlbaren Stellen aufhalsen, ohne selbst in der Lage zu sein, ihre Mitarbeiter zu loben und zu motivieren, weil sie hektisch und ohne Gesamtüberblick von einem Teilbetrieb zum anderen jagen. Eine Vorgesetzte oder ein Vorgesetzter muss ihnen klare Ansagen vermitteln, das Mitdenken nicht nur erlauben, sondern auch schätzen.
Gerade darin ist die junge Generation streitbar. Sie unterstützen mit Vehemenz die Streiks aus den anderen Berufen mit entropischer Arbeit, weil die immer noch zu niedrig bezahlt werden. Köchinnen, Serviererinnen, Kindergärtner, Pfleger, Sozialarbeiter aus den verschiedenen Gewerben und Dienstleister, die reparieren, warten, putzen und die Wirtschaft in der Produktion mit ihrer Arbeit zyklischer Natur am Laufen halten, ohne dass eine dauernde Wirkung und Sichtbarkeit erfolgt, weil sie leicht wieder zu Nichte wird und zurück in Unordnung gerät. Man kann Straßen mit Maschinen kehren, Rasen mit Mäher schneiden, Bäume und Hecken mit Elektrowerkzeug kürzen und formen, Bäche und Flüsse ausbaggern und Autobahnen neu teeren, aber die Menschen, die das tun, brauchen oft jahrelange Ausbildung, ohne dass sich dies später im Lohn widerspiegelt.
Charlene hatte in vielen verschiedenen Berufen ihre Erfahrungen gesammelt. In der ehemaligen DDR konnte eine Maschinistin, die landwirtschaftliche Geräte in den LPG reparierte, gutes Geld verdienen wie die Männer. Aber im Westen scheuten sich die Werkleiter, weibliche Schlosser, Elektriker und Mechanisten einzustellen, obwohl sie die geringer bezahlten, weil sie dann extra Sanitäranlagen zur Verfügung stellen mussten. Das sei zu teuer.
Charlene glaubte, dass bald Betriebe entstehen würden, die ganz auf Frauen setzten, weil die zuverlässig, genau und mindestens ebenso effektiv wie Männer arbeiteten, oft sogar besser. Sie selbst würde, so hatte sie sich vorgenommen, wenn der erneute Umzug realisiert war, noch einmal arbeiten. Das, was sie zu beherrschen glaubte, war die deutsche Sprache. Also würde sie ausländische Mütter unterrichten wollen, während deren Kinder in der Schule oder im Kindergarten und Hort lernten. dann würden sie ihren Töchtern und Söhnen besser bei den Hausaufgaben helfen können, deren Aussprache kontrollieren und nicht mehr so hilflos sein beim Einkaufen. Gleichzeitig könnten diese Frauen sich untereinander helfen, Kochrezepte und Erfahrungen austauschen und sich in diesem bisher fremden Sprachraum heimisch machen. Ach, sie hatte schon Pläne im Kopf, wie sie das anfangen würde. Langweilig konnte das mit all ihren Ideen für niemanden werden. Lene fühlte sich sozial kompetent, schließlich hatte sie selbst Kinder großgezogen, eine Lehrerausbildung in der DDR gehabt und ein Literaturstudium absolviert. Nur die eigene Gesundheit müsste noch eine Weile mitspielen. Dann wäre sie selbst unter Menschen und in den Strom der Zeit eingebunden. Was gäbe es Schöneres?
Am nächsten Bahnhof musste Lene umsteigen. Darum erschrak sie bei der Durchsage, dass ihr Zug fünfundzwanzig Minuten Verspätung haben würde, weil sie jetzt halten und einen schnelleren Zug durchlassen mussten. Über die zehn Minuten bisher hatte sie sich weiter nicht gegrämt, denn die hätten noch aufgeholt werden können. Aber ihr Aufenthalt betrug nur 45 Minuten bis zur Abfahrt des Anschlusszuges. Nun wurde das eventuell prekär, wenn der andere nicht auf diesen wartete.
Sie holte ihre Brille und das winzige Handy heraus und wählte die Bahnauskunft. Wenn der Anschlusszug nicht warten würde, erfuhr sie, konnte sie erst 1 ½ Stunden später oder in einem langsameren Zug weiterfahren. Mein Gott, dachte sie, was nützt alle Planung, wenn die Bahn unpünktlich fuhr. Dabei war die Eisenbahn mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben und damit viel umweltfreundlicher als die konkurrierenden Fernbusse, die im Übergang zum Solarzeitalter hoffnungslos veraltet waren mit ihrem Benzin oder Diesel aus Erdöl. Dafür wollten die sogar Frecking erlauben wollen, diese Umweltzerstörung in Höchstpotenz. Der Biodiesel ist auch nicht das Gelbe vom Ei, denn da werden wieder arme Länder ausgebeutet, die statt Nahrung für ihre Bevölkerung anzubauen, für die reichen Länder Raps, Lein oder Sonnenblumen anbauen. Dabei sterben täglich in der Welt Menschenkinder aus Hunger. Dauernd begegnet man diesen Versuchungen, zu Sachen zu greifen, die man doch ablehnt. Der Sänger scheint recht zu behalten: Das Böse ist immer und überall.

Charlenes Abschied 5

Zum Lehrerstudium

Dreißig Jahre hatte Charlene um dieses Kind geweint, als sie längst ihre beiden anderen schon hatte und über sie glücklich war mit ihrem damaligen Mann.
Da für beide, Mutter und Charlene, dieses Ereignis zu plötzlich kam, wussten sie sich nicht zu verhalten. Mutter rannte zum Pfarrer wegen der Beerdigung, der hatte die Eltern zwar getraut und alle drei Langekinder getauft, aber dieses nicht. Charlene war zornig auf Gott, sie wollte das alles nicht, bat die Mutter, dass der Pfarrer nicht im Talar auf den Friedhof kommen solle. Dem Kind im Sarg löste sie die gefalteten Hände und steckte Blumen hinein. Der Pfarrer stand dann im wehenden Talar im Schneegestöber und behauptete, Gott hätte ihnen das Kind genommen, weil sie es nicht hatten taufen lassen. Da keiner den Beerdigungstermin wusste, unbeholfen wie sie waren, hatten sie es versäumt, Bescheid zu sagen, predigte der vor fünf Menschen. Sicher hatte er sich das anders vorgestellt. Aber seitdem mied Charlene alle Kirchen.
Als sie nach der Beerdigung nach Hause kamen, lag der ganze Hausflur voller Kränze und Blumen. Ergebnis des Mitgefühls der Hausbewohner und Nachbarn, die das Blauäuglein gemocht hatten. Auch von fremden Menschen aus der Nachbarschaft wurde sie mitleidig angesprochen. Eine Frau hatte erst kurz vorher ihr Kind durch plötzlichen Kindstod verloren und wollte sie umarmen, aber Charlene ließ so etwas nicht zu. Sie war zuerst wie erstorben gefühlsmäßig.
Damals ließ Charlene ein hübsches hellgraues Kostüm schwarz färben und ging in Trauer. Ihre Vertretung in der Telefonzentrale konnte nicht tippen, ihren rechten Daumen und Zeigefinger verlor sie an eine Maschine in der Produktionshalle unten, saß hier auf einem Schonplatz. Aber ohne zu tippen konnte sie auch diese komische Lochmaschine nicht bedienen, die in der Zentrale stand. Man gab den Text per Hand über die Tastatur ein, die Maschine stanzte einen Streifen, den man dann ganz schnell an einen Empfänger senden konnte. Das fehlte den Ingenieuren bei der Arbeit, besonders der Absatzabteilung. Vielleicht hatte der Personalchef sie darum so entbehrt.
Als sie wieder dort saß, fand sie einiges verändert. Man hatte dieses Ende des Treppenhauses, in dem sich die Telefonzentrale befand, inzwischen mit einer Glaswand abgetrennt. Es zog nun dort nicht mehr, die kleine Luke wie bei einem Pförtner blieb geschlossen, wenn keiner etwas von ihr wollte. So vermied man den direkten Kontakt und war weniger ansteckungsgefährdet als vorher beim Verkauf der Essenmarken. Die Vermittlungsaufträge gaben alle per Telefon. Da waren nun auch weniger Nebengeräusche zu hören.
Trotzdem wollte Charlene dort nicht alt werden. Wieder bewarb sie sich an einem Lehrerbildungsinstitut. Um bessere Chancen zu haben, dort angenommen zu werden, benötigte sie eine Delegierung aus dem Betrieb. Die wollte der Personalchef natürlich nicht geben, aber Charlene hatte einen Besuch von einem früheren Spielkameraden, dessen Eltern immer noch neben Mutter unter dem Dach wohnten, der ihr einen Rat gab. Sie könne von der Jugendorganisation eine solche Delegierung bekommen. Nur leider war Charlene schon mit elf wieder aus den Jungen Pionieren ausgetreten, weil sie den kleinen Bruder nicht mehr zu den Gruppennachmittagen mitbringen durfte. So war sie nicht wie die anderen automatisch in die FDJ übernommen worden.
Der FDJ-Sekretär des Betriebes mochte sie und nahm sie nicht nur als neues Mitglied auf, sondern schrieb ihr auch eine Delegierung zum Studium. Als sie das Bewerbungsfoto machen ließ, traf sie eine Mitschülerin von ihrer früheren Fotofachklasse und deren Chefin bot ihr den Job an, in dem sie sich zur Fotografin weiterbilden konnte. Also schied sie schneller als gedacht aus der Maschinenfabrik aus. Das Institut hatte ihr für das anlaufende Studienjahr abgeschrieben, also nahm sie die Stelle bei der Fotografenmeisterin an. Die schickte sie auf Architektur-Außenaufnahmen, was auf Anhieb klappte. Aber dann sollte sie mit einer völlig fremden Kamera eine Hochzeit fotografieren und das ging schief.
Entnervt arbeitete sie in der Negativentwicklung, als plötzlich das Lehrerbildungsinstitut telegrafierte, sie solle sich in der nächsten Woche im Immatrikulationslager melden. Es war jemand zurückgetreten. Sie erbat sich von der Meisterin drei Tage Bedenkzeit und griff dann zu. Gern dachte sie an das Lager zurück. Als Ergebnis hatte sie während der Immatrikulationsfeier vor dreihundert Leuten die Antrittsrede für ihr Studienjahr zu halten. Alle waren zufrieden, die Stimmbildnerin des Instituts erließ ihr sofort die Stimmbildung, weil sie das ja könne. Schon nach dem halben Studienjahr erhielt sie Leistungsstipendium. Das Wohnen im Internat war preiswert. Mittagessen war auch sicher. Aber da wohnte dann wieder ein Kerl, ein Kommilitone mit blondem Haar und blauen Augen, wieder fiel sie darauf rein.

Charlenes Abschied 4

Fort aus Dessau

In der Heimatstadt konnte sie damals keine Stelle in ihrem Beruf bekommen, sie verdingte sich als Arbeiterin in einer Großwäscherei. Der Chef dort wollte sie zur Dechateurin ausbilden, aber sie mochte nicht noch mehr Chemie so als Fleckenreinigerin. Sie bewarb sich als Saisonkraft in eine Drogerie mit Fotoabteilung in einem Ostseebad. Per Flugzeug gelangte sie dorthin, der Sohn des neuen Chefs holte sie mit einem klapperigen Auto vom Flugplatz ab. In seinem Zimmer schlafend verbrachte sie dann die Saison, während er auf dem Dachboden auf einer Luftmatratze schlief.
An die See hatte sie sich schon lange gewünscht und sie wollte einen großen, blonden Kapitän kennenlernen. Aber als sie wusste, wen, war sie dem zu klein. Mit dem großen Bruder gemeinsam hatten sie zu Hause immer die Seemannslieder gesungen. Am liebsten das vom Kapitän, der immer lächeln, die Fahne nicht im Sturm untergehen lassen sollte und sogar im Kampf mit einem Hai siegte. Charlene hatte viele Bewerber, wenn sie mit den Kolleginnen zum Tanz ausging. Mit dem Sohn des Dorfarztes hatte sie sich dann eingelassen, wohnte im Arzthaus im Stübchen über der Haustür, bis sie in einer alten Pension, die als Kinderkrippe diente, von der Gemeinde ein Zimmer bekam. Da arbeitete sie als Pflegerin im Feierabendheim.
Dem Arztpapa reichten ihre Kenntnisse aus den zwei, fast drei Jahren bei den Diakonissen für diesen Job. Und sie liebte ihre alten Leute und diesen Dienst, bis sich einer von den alten Herren mit seinem Rasiermesser die Kehle durchschnitt. Das war furchtbar. Er hatte Asthma und fühlte sich in diesem Haus nicht wohl, vermisste seine kürzlich verstorbene Ehefrau so sehr. Einer seiner Zimmerkollegen, sie waren zu fünft im Zimmer, war so bösartig, als er nicht in ein Krankenhaus überwiesen wurde, weil man ihm da auch nur hätte Asthmaspray verabreichen können, zu bemerken, wer wüsste denn, wie lange er sich hier noch herumquälen müsste mit dieser Atemnot. Charlene hatte diesem Kerl zwar vor der Tür ins Gewissen geredet, aber als sie eine Stunde später von der Arbeit im zweiten Stock herunterkam, hatte der Barbier sein scharfes Rasiermesse schon durch seine Kehle gezogen und alles war zu spät.
Danach bewarb sie sich das erste Mal an einem Lehrerbildungsinstitut, denn sie wollte nicht bei den Sterbenden ihr Leben verbringen, lieber mit Kindern zu tun haben. Ihr Freund, der Vollmatrose und Arztsohn, wusste davon nichts. Sie musste ja auch die Bewerbung zurückziehen, weil bald ein Kind unterwegs war. Das war eigentlich geplant, der Seemann wollte gleich heiraten. Die Ringe waren schon bestellt. Aber irgendwann kapierte Lene, dass dies Kind nicht von ihm war, sondern von dem schönen, großen, blonden Kerl, der im Altenheim die Malerarbeiten erledigte und ihr immer heftiges Herzklopfen verursacht hatte, wenn er ihr einfach in den Weg trat und sie zu ihm aufsehen musste. Er erzählte dann, dass seine Frau als Parteigenossin durchgesetzt habe, dass er zur Strafe, weil er im Theater als Theatermaler zu viel mit Mädchen herumgemacht hatte, als Anstreicher bei seinem Schwager arbeiten müsste, wie andere Unliebsame in die Produktion geschickt wurden. Der war einfach nachts auf das Flachdach vor ihrem Fenster gestiegen und hatte sich Zutritt verschafft. Ihr Widerstand war schnell gebrochen. Die Reue nach der Liebe kam zu spät.
Da rauf war ihr erster Suizidversuch gefolgt, Schwangerschaftsdepression würde sie heute meinen. Die ständige Einsamkeit in dem Kaff, wenn der Matrose auf großer Fahrt war, hatte sie zu Fall gebracht. Also trug sie das Kind ohne Vater aus und kehrte damit zu ihrer Mutter zurück. Der große Bruder hatte ein Wort bei der eingelegt, dass sie das Zimmer mit Zugang vom Hausflur mit ihrem Kind bewohnen durfte. Um nichts in der Welt hätte sie jemandem ein Kind unterschieben wollen, das nicht das seine war.
Und wieviel Freude sie dann an diesem Kind gehabt hatten Mutter und sie. Diese wunderschönen, strahlend blauen Augen – die anderen Mieter im Haus nannten dieses Baby immer Blauäuglein. Freilich war auch diese Zeit nicht nur glücklich. Sie hatte in einem VEB Arbeit als Telefonistin und Schreibkraft gefunden, sich freche Anrufe von dort tätigen Mädchen und jungen Frauen gefallen lassen müssen – auch in der DDR war ein außereheliches Kind noch eine Schande – und sich schließlich durch das Händegeben der Arbeiter, wenn sie das Essengeld für die Kantine bei ihr bezahlten, eine Gelbsucht zugezogen. Die Mutter brach sich da gerade das Handgelenk im Urlaub und konnte nicht sofort für den Buben sorgen. Also blieb Charlene noch zu Hause, bis das geschient war. Nach der Zeit im Krankenhaus spielte der Chef vom Personalbüro dauernd verrückt und mahnte sie bei den Ärzten an, als sei sie eine Arbeitsbummelantin. Darum war dann auch das große Unglück geschehen. Charlene sah es heute noch vor sich.
Bruder German brachte Weihnachten seine Verlobte mit nach Hause, eine Lehrerstudentin. Um den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer aufstellen zu können, wurde das Laufställchen von Lenes Söhnchen Jörg fortgeräumt. An besagtem Morgen zwischen Weihnachten und Neujahr, als sie zum Beratungsarzt bestellt war, badete sie ihr Baby früh und stellte es in das ausgeräumte Gitterbettchen, gab ihm etwas Spielzeug hinein und versprach ihm, schnell zurückzukommen und dann mit ihm zu den Gagag-Entchen am Teich zu spazieren. Er konnte mit seinen fast dreizehn Monaten schon Gagag-E-e sagen. Die angehende Schwägerin war siebzehn und beschäftigte sich in der Küche mit Kartoffeln schälen, die Türen zum Wohnzimmer und zum Zimmer des Kindes waren alle offen, sie sollte ein wenig achtgeben.
Im Treppenhaus traf sie ihre Brüder German und Gernot an, die für die Mutter Kohlen aus dem Keller in die Kammer auf halber Treppe schafften, damit die Mutter sie nicht vier Treppen hoch zu schleppen brauchte. Auch denen legte sie nochmal ans Herz, nach ihrem Kind zu sehen inzwischen. Dann eilte sie durch die Parkanlagen zum Arzt. Sie saß für ihr Dafürhalten noch nicht lange, als der Doktor aus der Tür sah, sie aufrief und ihr sagte, sie solle sofort in die Poliklinik gehen. Nachdem er sich schon wieder entfernt hatte, steckte er noch einmal den Kopf aus dem Türspalt um zu sagen, dass sie nicht wieder herzukommen brauche.
Sie wunderte sich sehr und überlegte, was das denn zu bedeuten habe. Wurde sie in der Poliklinik statt hier untersucht? Es erschien ihr zuerst möglich, aber dann erfasste sie heftige Angst. War etwas passiert? Etwas mit dem Kind? Sie jagte nach Hause, die vier Treppen hinauf, was ihr nach der Gelbsucht immer noch schwer fiel. Sie riss die Tür zu ihrem Zimmer auf: Das Kinderbett war leer, überall sah sie schwarze Spuren. Als Gernot kam und fragte, ob sie schon in der Poliklinik gewesen sei, schrie sie ihn an, ob er mit Feuerwerkskörpern rumgeknallt hätte. Er verneinte, er habe nichts gemacht. Gernot war etwa so alt wie Germans Verlobte damals, siebzehn. Das Schwarze war Kohlendreck von Germans Händen.
Sie raste hinüber auf die andere Straßenseite und lief in der Poliklinik die Treppen hoch, weil sie neulich erst dort gewesen war. Jemand unten rief ihren Namen und führte sie in ein Zimmer. Da sah sie das Kind auf einer Liege, überall mit kleinen dunklen Flecken übersät, daneben saß ihre Kinderärztin, die ihr neulich erst gesagt hatte, dass sie ihr in Kinderpflege eine Eins gebe, als Jörg schon nach drei Tagen zu Hause wieder gesund gewesen war, nachdem er mit Erkältung nicht in die Kinderkrippe hatte gehen können. Charlene kniete vor der Liege und streichelte ihr Kind, es war noch warm. Die Ärztin erklärte ihr, dass Jörg sich mit der Trommelschnur um den Hals das Blut zum Gehirn abgestellt hatte, als er sie sich umgehängt und nach draußen geworfen hätte, da war sie wohl quer zu den Gittern hängen geblieben und er von der Matratze abgerutscht und dadurch stranguliert worden. Charlene war außer sich, wieder glaubte sie, dass ihr Bruder durch Silvesterknaller die Flecken verursacht hätte. Nein, das sei gestautes Blut, erklärte die Ärztin. Es war furchtbar, unfassbar, unerträglich.
Nach einer Weile erbot sich ihre Stimme, die Großmutter anzurufen. Sie stimmte ohne Worte zu. Die Kinderärztin kannte ja die Familie seit vielen Jahren, sie wohnte im Nachbarhaus und alle Kinder waren bei ihr Patienten gewesen. Sie fasste Charlene am Arm und half ihr aufzustehen, streichelte ihr über den Kopf, denn sie war viel höher gewachsen als Lene. Wie lange sie da gekniet hatte, wusste sie später nicht zu sagen. Sie wurde aus dem Zimmer geführt, draußen saßen weinend German und seine Verlobte Gundel und sie gingen gemeinsam hinüber nach Hause. Das Mädchen wollte sofort abreisen, aber die Kriminalpolizei verlangte, dass sie sich zur Verfügung halten müssten.
Auch Charlene wurde zur Polizei bestellt. Weil das Kind außerehelich geboren war, äußerten sie die schlimmsten Vermutungen, obwohl alle Zeugen ausgesagt hatten, dass es geliebt wurde. Da sie alle, Gundel wie auch ihre Brüder gebeten hatte, aufzupassen, konnte man ihr keinen Strick drehen wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Aber sie fühlte sich schuldig. Warum hatte sie das Baby nicht einfach in den Kinderwagen gesetzt und mitgenommen? Vielleicht hätte sie ja damit die Wartezeit beim Arzt verkürzen können? Heute trugen die Mütter ihre Kinder im Tragetuch auf der Hüfte oder vor dem Bauch, was damals noch nicht üblich war.

Charlenes Abschied 3

Lenes Mutter strickte viel. Sie konnte herrliche Muster aus Vorlagen nachstricken und saß manchmal bis in die Nacht darüber. Immer wurde sie in hübsche Stricksachen gekleidet. Alte Sachen wurden aufgedröselt und vom zweiten Mann ihrer Großmutter, einem Witwer mit nur noch einem Bein und einem Glasauge, so fest auf Knäule gewickelt, dass sie glattgezogen wurden und man nach dem Verarbeiten das Ribbelgarn nicht mehr von neuer Wolle unterscheiden konnte.
Als Charlene mit vierzehn ins Internat kam, liehen die anderen Mädchen sich schöne Pullover von ihr aus,  um zum Fotografen zu gehen. Selbst brachte sie das Stricken nie zu ähnlicher Perfektion, weil die Zählerei ihr nicht lag, sie konnte sich schlecht darauf konzentrieren. Dafür entdeckte sie schon in der siebten Klasse, dass sie Vaters Zeichentalent geerbt hatte. Eine bewunderte Sitznachbarin wurde von ihr auf kariertem Papier porträtiert und war gut gelungen. Sie konnte auch gut mit der Schere umgehen. Mit fünfzehn hatte sie dann einen ganzen Lampenschirm mit schwarzen Scherenschnitten aus eigenen Entwürfen für den Geburtstag der Oberin im Mutterhaus der Cracauer Diakonissen gestalten dürfen. In der Zeit setzte die leitende Lehrschwester sie schon zu solchen künstlerischen Arbeiten ein, statt sie Fenster putzen oder Toiletten scheuern zu lassen, wie das in ihrem Kurs üblich war. Auch beim Sticken von Kissen war sie der Lehrschwester zu langsam, obwohl Lene das ganz gern und mit Eifer tat.
Charlene schaute noch einmal am Haus hoch zu den Fenstern im Giebel, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem jüngsten Bruder, um ihre Reisetasche abzuholen. Über die Bachbrücke konnten jetzt keine Autos mehr in die Bachstraße abbiegen, sie mussten ein Stück weiter in die Geschwister-Scholl-Straße fahren, dann links und dann noch einmal links und rechts einbiegen. Aber laufen durfte man noch über diese Brücke, unter der der Bach nach wie vor durch zwei Röhren fließt. Durch diese von einer Seite zur anderen zu kriechen, hatte immer als Mutprobe unter den Kindern gegolten. Leni hatte sich einige Blutegel von den nackten Beinen abmachen müssen, als sie drüben angekommen war. Barfuß im Bach zu stehen oder zu gehen war trotzdem im Sommer eine Wohltat an Kühle. Es schwammen auch immer Äpfel drin und kleine Fische, sogar Kaulquappen zu gewisser Zeit. Die Kinder liebten den Bach. Wasser ist anziehend.
An jeder Ecke Erinnerungen. Sie wusste, dass sie viel zu weit weg lebte, um später noch einmal in diese ihre Heimatstadt zu fahren. Es war ein Abschied für immer. Mit über siebzig fällt das schon gewissermaßen schwer, aber mit der vor zwei Jahren festgestellten Erkrankung würde sich auch die frühere Fitness nie wieder einstellen. Sie war froh, noch einmal hier gewesen zu sein. Bewusst Abschied zu nehmen schien ihr wichtig. Viele Abschiede hatte sie im Laufe des Lebens durchstehen müssen, nicht alle waren so durchdacht wie dieser.
Der Bruder war im Keller werkeln, so umarmte sie oben die Schwägerin und rief einen Gruß durch die Kellertür, denn sie scheute sich davor, die Stufen wieder hinaufgehen zu müssen. Oft stieß sie sich dabei schmerzhaft die Zehen an, weil die Achillessehnen nicht mehr richtig reagierten.
Aber der Bruder kam rasch herauf, ob er sie denn nicht zum Bahnhof fahren solle, er würde sich nur die Hände waschen gehen. Das nahm sie gern an.
Als Charlene im Zug saß und die bekannten Landschaften an ihr vorbeiflogen, erinnerte sie sich an vieles. Sonntagsausflüge per Fahrrad mit den Eltern in die Dübener Heide, Pilze oder Blaubeeren sammeln, schwimmen im Waldsee. Besuche im Wörlitzer Park mit all seinen Naturwundern, Brücken und Sichtachsen, Inseln und fremdem Baumbestand. Fahren mit der Wörlitzer Bahn bis Dessau, in die dortigen Parkanlagen mit Teehäuschen gehen und auf einem alten Friedhof mit großen Bäumen wandeln.
Mit den eigenen Kindern und deren Vater hatten sie ebenfalls Wörlitz besucht, da war Lenes Mutter noch dabei. Es gibt ein Foto, wo alle neben dem Auto im Gras sitzen und Kartoffelsalat essen. Dabei erzählte Mutti von einem Ausflug mit dem ältesten Bruder zum Ähren lesen nach dem Krieg. Sie hatte auch Kartoffelsalat mitgenommen und Kaffee. Der immer hungrige Ben war heimlich über das Essen hergefallen und als er merkte, dass es plötzlich so wenig aussah, hatte er kurzerhand Kaffee rein gekippt.
Hunger, ja, den kannten sie noch. Obwohl sie selbst immer eine schlechte Esserin gewesen sein soll damals. Vor Wut hatte die Mutter ihr einmal die Kartoffelsuppe über den Kopf geschüttet. Auf der Straße wurde sie gefragt, ob sie ihrer Tochter nichts zu essen gebe, weil die so dünn war, und sie schämte sich dafür. Einmal, als sie die Mutter beim Brote machen beobachtete, wie diese ein Stück Käse in den Mund steckte, wollte sie auch davon. Aber das Käsebrot wies sie mit der Bemerkung zurück, dass sie doch Käse ohne Brot gewollt hätte.
Hier im Osten hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine ganze Menge geändert, nicht alles war gut, fand sie. Aber Deutschland als Ganzheit gefiel ihr in den heutigen Grenzen. Wir in der DDR haben die Oder-Neiße-Grenze rechtzeitig respektieren gelernt. Gebietsansprüche an die Länder des Ostens lehnte sie als Großmachtgetue ab. Der eigene Sohn pflegte manchmal Bemerkungen zu machen, dass sie sich an den Kopf fassen musste. Die historischen Karten hatten es ihm angetan. Nach all den Geschehnissen im zweiten Weltkrieg konnte man nur froh sein, wenn Polen und Russen das wiedervereinte Deutschland nicht als Bedrohung empfanden.
Obwohl, dieses Wirtschaftssystem die Gesamtheit der Menschen hier sehr entzweite. Die berühmte Schere zwischen arm und reich, sie bekam sie selbst zu spüren jetzt im Alter. Die Rente wollte und wollte nicht reichen. Sie fühlte sich solidarisch mit den griechischen Rentnern, deren Rente gekürzt werden sollte. Wie konnten Deutsche so etwas verlangen? (Die alten Sprüche vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, waren wieder aufgetaucht.) Frau Merkel, das Pfarrerskind, war einfach zu spät geboren, sonst würde sie anders handeln und nicht die allmächtigen Konzerne für Pharma- und Rüstungsindustrie unterstützen, die doch schon genug an den Griechen verdient haben. Jetzt wird gemunkelt, dass es allen südlichen Ländern besser ginge, wenn Deutschland aus dem Euroverbund ausscheiden würde, jedenfalls käme keiner zu Schaden. Das hat nun diese Regierung davon, dass sie so unerbittlich kämpft!
Der Zug war gerade über Dessau hinaus. Dort hatte sie mal länger als drei Jahre gelebt. Zuerst bei den Eltern einer Freundin im schrägen Stübchen im Pfarrhaus, das nicht beheizbar war, später zur Untermiete bei einer Diakonisse. Das Zimmer hatte da wenigstens einen Kachelofen und auf einer elektrischen Kochplatte konnte sie Wasser für Kaffee und Tee kochen. Manchmal war trocken Brot in Zucker und Tee gebrockt das ganze Frühstück oder Abendbrot. Mit dem wenigen Lehrlingsentgeld allein auszukommen – schwierig. Mutter schickte ihr monatlich 20 Mark. Aber schon Butter allein war teuer für sie. Charlene lernte im Fotofachgeschäft, wollte Fotografin werden. Nicht so sehr aus eigenem Antrieb, es hatte sich so ergeben, weil der befragte Goldschmied keinen weiblichen Lehrling annehmen wollte, da die ja doch wegheiraten später.
Charlene hätte lieber mit ihren Händen etwas gestalten wollen, als in Dunkelkammern in Chemie zu wühlen. Damals musste man das noch, obwohl der Obermeister ihnen schon erzählte, dass diese Arbeit bald von Maschinen verrichtet werden würde in hellen Räumen. Von Digitalfotografie konnte er noch nichts ahnen. Und wie schon vorher bei den Diakonissen, als sie Paramentikerin werden wollte, Wolle spinnen, Paramente entwerfen und weben, Altartücher sticken und die Kirche schmücken, wo dann eine Pfarrerstochter mit Abitur ihr vorgezogen wurde und die Meisterin sie mobbte, dass sie von allein fortging, so hatte sie auch hier Pech. Plötzlich durften Lehrlinge ohne 10. Klasseabschluss per Gesetz nicht mehr Fotografen werden, nur noch Fotolaboranten und dann per Weiterbildung vorwärts. Sicher hätte sie das gemacht, aber dann ist sie kurz nach der Facharbeiterprüfung aus Liebeskummer aus der PGH ausgetreten und zur Mutter zurück geflüchtet.