Archiv für den Tag: 8. August 2015

Charlenes Abschied 5

Zum Lehrerstudium

Dreißig Jahre hatte Charlene um dieses Kind geweint, als sie längst ihre beiden anderen schon hatte und über sie glücklich war mit ihrem damaligen Mann.
Da für beide, Mutter und Charlene, dieses Ereignis zu plötzlich kam, wussten sie sich nicht zu verhalten. Mutter rannte zum Pfarrer wegen der Beerdigung, der hatte die Eltern zwar getraut und alle drei Langekinder getauft, aber dieses nicht. Charlene war zornig auf Gott, sie wollte das alles nicht, bat die Mutter, dass der Pfarrer nicht im Talar auf den Friedhof kommen solle. Dem Kind im Sarg löste sie die gefalteten Hände und steckte Blumen hinein. Der Pfarrer stand dann im wehenden Talar im Schneegestöber und behauptete, Gott hätte ihnen das Kind genommen, weil sie es nicht hatten taufen lassen. Da keiner den Beerdigungstermin wusste, unbeholfen wie sie waren, hatten sie es versäumt, Bescheid zu sagen, predigte der vor fünf Menschen. Sicher hatte er sich das anders vorgestellt. Aber seitdem mied Charlene alle Kirchen.
Als sie nach der Beerdigung nach Hause kamen, lag der ganze Hausflur voller Kränze und Blumen. Ergebnis des Mitgefühls der Hausbewohner und Nachbarn, die das Blauäuglein gemocht hatten. Auch von fremden Menschen aus der Nachbarschaft wurde sie mitleidig angesprochen. Eine Frau hatte erst kurz vorher ihr Kind durch plötzlichen Kindstod verloren und wollte sie umarmen, aber Charlene ließ so etwas nicht zu. Sie war zuerst wie erstorben gefühlsmäßig.
Damals ließ Charlene ein hübsches hellgraues Kostüm schwarz färben und ging in Trauer. Ihre Vertretung in der Telefonzentrale konnte nicht tippen, ihren rechten Daumen und Zeigefinger verlor sie an eine Maschine in der Produktionshalle unten, saß hier auf einem Schonplatz. Aber ohne zu tippen konnte sie auch diese komische Lochmaschine nicht bedienen, die in der Zentrale stand. Man gab den Text per Hand über die Tastatur ein, die Maschine stanzte einen Streifen, den man dann ganz schnell an einen Empfänger senden konnte. Das fehlte den Ingenieuren bei der Arbeit, besonders der Absatzabteilung. Vielleicht hatte der Personalchef sie darum so entbehrt.
Als sie wieder dort saß, fand sie einiges verändert. Man hatte dieses Ende des Treppenhauses, in dem sich die Telefonzentrale befand, inzwischen mit einer Glaswand abgetrennt. Es zog nun dort nicht mehr, die kleine Luke wie bei einem Pförtner blieb geschlossen, wenn keiner etwas von ihr wollte. So vermied man den direkten Kontakt und war weniger ansteckungsgefährdet als vorher beim Verkauf der Essenmarken. Die Vermittlungsaufträge gaben alle per Telefon. Da waren nun auch weniger Nebengeräusche zu hören.
Trotzdem wollte Charlene dort nicht alt werden. Wieder bewarb sie sich an einem Lehrerbildungsinstitut. Um bessere Chancen zu haben, dort angenommen zu werden, benötigte sie eine Delegierung aus dem Betrieb. Die wollte der Personalchef natürlich nicht geben, aber Charlene hatte einen Besuch von einem früheren Spielkameraden, dessen Eltern immer noch neben Mutter unter dem Dach wohnten, der ihr einen Rat gab. Sie könne von der Jugendorganisation eine solche Delegierung bekommen. Nur leider war Charlene schon mit elf wieder aus den Jungen Pionieren ausgetreten, weil sie den kleinen Bruder nicht mehr zu den Gruppennachmittagen mitbringen durfte. So war sie nicht wie die anderen automatisch in die FDJ übernommen worden.
Der FDJ-Sekretär des Betriebes mochte sie und nahm sie nicht nur als neues Mitglied auf, sondern schrieb ihr auch eine Delegierung zum Studium. Als sie das Bewerbungsfoto machen ließ, traf sie eine Mitschülerin von ihrer früheren Fotofachklasse und deren Chefin bot ihr den Job an, in dem sie sich zur Fotografin weiterbilden konnte. Also schied sie schneller als gedacht aus der Maschinenfabrik aus. Das Institut hatte ihr für das anlaufende Studienjahr abgeschrieben, also nahm sie die Stelle bei der Fotografenmeisterin an. Die schickte sie auf Architektur-Außenaufnahmen, was auf Anhieb klappte. Aber dann sollte sie mit einer völlig fremden Kamera eine Hochzeit fotografieren und das ging schief.
Entnervt arbeitete sie in der Negativentwicklung, als plötzlich das Lehrerbildungsinstitut telegrafierte, sie solle sich in der nächsten Woche im Immatrikulationslager melden. Es war jemand zurückgetreten. Sie erbat sich von der Meisterin drei Tage Bedenkzeit und griff dann zu. Gern dachte sie an das Lager zurück. Als Ergebnis hatte sie während der Immatrikulationsfeier vor dreihundert Leuten die Antrittsrede für ihr Studienjahr zu halten. Alle waren zufrieden, die Stimmbildnerin des Instituts erließ ihr sofort die Stimmbildung, weil sie das ja könne. Schon nach dem halben Studienjahr erhielt sie Leistungsstipendium. Das Wohnen im Internat war preiswert. Mittagessen war auch sicher. Aber da wohnte dann wieder ein Kerl, ein Kommilitone mit blondem Haar und blauen Augen, wieder fiel sie darauf rein.

Charlenes Abschied 4

Fort aus Dessau

In der Heimatstadt konnte sie damals keine Stelle in ihrem Beruf bekommen, sie verdingte sich als Arbeiterin in einer Großwäscherei. Der Chef dort wollte sie zur Dechateurin ausbilden, aber sie mochte nicht noch mehr Chemie so als Fleckenreinigerin. Sie bewarb sich als Saisonkraft in eine Drogerie mit Fotoabteilung in einem Ostseebad. Per Flugzeug gelangte sie dorthin, der Sohn des neuen Chefs holte sie mit einem klapperigen Auto vom Flugplatz ab. In seinem Zimmer schlafend verbrachte sie dann die Saison, während er auf dem Dachboden auf einer Luftmatratze schlief.
An die See hatte sie sich schon lange gewünscht und sie wollte einen großen, blonden Kapitän kennenlernen. Aber als sie wusste, wen, war sie dem zu klein. Mit dem großen Bruder gemeinsam hatten sie zu Hause immer die Seemannslieder gesungen. Am liebsten das vom Kapitän, der immer lächeln, die Fahne nicht im Sturm untergehen lassen sollte und sogar im Kampf mit einem Hai siegte. Charlene hatte viele Bewerber, wenn sie mit den Kolleginnen zum Tanz ausging. Mit dem Sohn des Dorfarztes hatte sie sich dann eingelassen, wohnte im Arzthaus im Stübchen über der Haustür, bis sie in einer alten Pension, die als Kinderkrippe diente, von der Gemeinde ein Zimmer bekam. Da arbeitete sie als Pflegerin im Feierabendheim.
Dem Arztpapa reichten ihre Kenntnisse aus den zwei, fast drei Jahren bei den Diakonissen für diesen Job. Und sie liebte ihre alten Leute und diesen Dienst, bis sich einer von den alten Herren mit seinem Rasiermesser die Kehle durchschnitt. Das war furchtbar. Er hatte Asthma und fühlte sich in diesem Haus nicht wohl, vermisste seine kürzlich verstorbene Ehefrau so sehr. Einer seiner Zimmerkollegen, sie waren zu fünft im Zimmer, war so bösartig, als er nicht in ein Krankenhaus überwiesen wurde, weil man ihm da auch nur hätte Asthmaspray verabreichen können, zu bemerken, wer wüsste denn, wie lange er sich hier noch herumquälen müsste mit dieser Atemnot. Charlene hatte diesem Kerl zwar vor der Tür ins Gewissen geredet, aber als sie eine Stunde später von der Arbeit im zweiten Stock herunterkam, hatte der Barbier sein scharfes Rasiermesse schon durch seine Kehle gezogen und alles war zu spät.
Danach bewarb sie sich das erste Mal an einem Lehrerbildungsinstitut, denn sie wollte nicht bei den Sterbenden ihr Leben verbringen, lieber mit Kindern zu tun haben. Ihr Freund, der Vollmatrose und Arztsohn, wusste davon nichts. Sie musste ja auch die Bewerbung zurückziehen, weil bald ein Kind unterwegs war. Das war eigentlich geplant, der Seemann wollte gleich heiraten. Die Ringe waren schon bestellt. Aber irgendwann kapierte Lene, dass dies Kind nicht von ihm war, sondern von dem schönen, großen, blonden Kerl, der im Altenheim die Malerarbeiten erledigte und ihr immer heftiges Herzklopfen verursacht hatte, wenn er ihr einfach in den Weg trat und sie zu ihm aufsehen musste. Er erzählte dann, dass seine Frau als Parteigenossin durchgesetzt habe, dass er zur Strafe, weil er im Theater als Theatermaler zu viel mit Mädchen herumgemacht hatte, als Anstreicher bei seinem Schwager arbeiten müsste, wie andere Unliebsame in die Produktion geschickt wurden. Der war einfach nachts auf das Flachdach vor ihrem Fenster gestiegen und hatte sich Zutritt verschafft. Ihr Widerstand war schnell gebrochen. Die Reue nach der Liebe kam zu spät.
Da rauf war ihr erster Suizidversuch gefolgt, Schwangerschaftsdepression würde sie heute meinen. Die ständige Einsamkeit in dem Kaff, wenn der Matrose auf großer Fahrt war, hatte sie zu Fall gebracht. Also trug sie das Kind ohne Vater aus und kehrte damit zu ihrer Mutter zurück. Der große Bruder hatte ein Wort bei der eingelegt, dass sie das Zimmer mit Zugang vom Hausflur mit ihrem Kind bewohnen durfte. Um nichts in der Welt hätte sie jemandem ein Kind unterschieben wollen, das nicht das seine war.
Und wieviel Freude sie dann an diesem Kind gehabt hatten Mutter und sie. Diese wunderschönen, strahlend blauen Augen – die anderen Mieter im Haus nannten dieses Baby immer Blauäuglein. Freilich war auch diese Zeit nicht nur glücklich. Sie hatte in einem VEB Arbeit als Telefonistin und Schreibkraft gefunden, sich freche Anrufe von dort tätigen Mädchen und jungen Frauen gefallen lassen müssen – auch in der DDR war ein außereheliches Kind noch eine Schande – und sich schließlich durch das Händegeben der Arbeiter, wenn sie das Essengeld für die Kantine bei ihr bezahlten, eine Gelbsucht zugezogen. Die Mutter brach sich da gerade das Handgelenk im Urlaub und konnte nicht sofort für den Buben sorgen. Also blieb Charlene noch zu Hause, bis das geschient war. Nach der Zeit im Krankenhaus spielte der Chef vom Personalbüro dauernd verrückt und mahnte sie bei den Ärzten an, als sei sie eine Arbeitsbummelantin. Darum war dann auch das große Unglück geschehen. Charlene sah es heute noch vor sich.
Bruder German brachte Weihnachten seine Verlobte mit nach Hause, eine Lehrerstudentin. Um den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer aufstellen zu können, wurde das Laufställchen von Lenes Söhnchen Jörg fortgeräumt. An besagtem Morgen zwischen Weihnachten und Neujahr, als sie zum Beratungsarzt bestellt war, badete sie ihr Baby früh und stellte es in das ausgeräumte Gitterbettchen, gab ihm etwas Spielzeug hinein und versprach ihm, schnell zurückzukommen und dann mit ihm zu den Gagag-Entchen am Teich zu spazieren. Er konnte mit seinen fast dreizehn Monaten schon Gagag-E-e sagen. Die angehende Schwägerin war siebzehn und beschäftigte sich in der Küche mit Kartoffeln schälen, die Türen zum Wohnzimmer und zum Zimmer des Kindes waren alle offen, sie sollte ein wenig achtgeben.
Im Treppenhaus traf sie ihre Brüder German und Gernot an, die für die Mutter Kohlen aus dem Keller in die Kammer auf halber Treppe schafften, damit die Mutter sie nicht vier Treppen hoch zu schleppen brauchte. Auch denen legte sie nochmal ans Herz, nach ihrem Kind zu sehen inzwischen. Dann eilte sie durch die Parkanlagen zum Arzt. Sie saß für ihr Dafürhalten noch nicht lange, als der Doktor aus der Tür sah, sie aufrief und ihr sagte, sie solle sofort in die Poliklinik gehen. Nachdem er sich schon wieder entfernt hatte, steckte er noch einmal den Kopf aus dem Türspalt um zu sagen, dass sie nicht wieder herzukommen brauche.
Sie wunderte sich sehr und überlegte, was das denn zu bedeuten habe. Wurde sie in der Poliklinik statt hier untersucht? Es erschien ihr zuerst möglich, aber dann erfasste sie heftige Angst. War etwas passiert? Etwas mit dem Kind? Sie jagte nach Hause, die vier Treppen hinauf, was ihr nach der Gelbsucht immer noch schwer fiel. Sie riss die Tür zu ihrem Zimmer auf: Das Kinderbett war leer, überall sah sie schwarze Spuren. Als Gernot kam und fragte, ob sie schon in der Poliklinik gewesen sei, schrie sie ihn an, ob er mit Feuerwerkskörpern rumgeknallt hätte. Er verneinte, er habe nichts gemacht. Gernot war etwa so alt wie Germans Verlobte damals, siebzehn. Das Schwarze war Kohlendreck von Germans Händen.
Sie raste hinüber auf die andere Straßenseite und lief in der Poliklinik die Treppen hoch, weil sie neulich erst dort gewesen war. Jemand unten rief ihren Namen und führte sie in ein Zimmer. Da sah sie das Kind auf einer Liege, überall mit kleinen dunklen Flecken übersät, daneben saß ihre Kinderärztin, die ihr neulich erst gesagt hatte, dass sie ihr in Kinderpflege eine Eins gebe, als Jörg schon nach drei Tagen zu Hause wieder gesund gewesen war, nachdem er mit Erkältung nicht in die Kinderkrippe hatte gehen können. Charlene kniete vor der Liege und streichelte ihr Kind, es war noch warm. Die Ärztin erklärte ihr, dass Jörg sich mit der Trommelschnur um den Hals das Blut zum Gehirn abgestellt hatte, als er sie sich umgehängt und nach draußen geworfen hätte, da war sie wohl quer zu den Gittern hängen geblieben und er von der Matratze abgerutscht und dadurch stranguliert worden. Charlene war außer sich, wieder glaubte sie, dass ihr Bruder durch Silvesterknaller die Flecken verursacht hätte. Nein, das sei gestautes Blut, erklärte die Ärztin. Es war furchtbar, unfassbar, unerträglich.
Nach einer Weile erbot sich ihre Stimme, die Großmutter anzurufen. Sie stimmte ohne Worte zu. Die Kinderärztin kannte ja die Familie seit vielen Jahren, sie wohnte im Nachbarhaus und alle Kinder waren bei ihr Patienten gewesen. Sie fasste Charlene am Arm und half ihr aufzustehen, streichelte ihr über den Kopf, denn sie war viel höher gewachsen als Lene. Wie lange sie da gekniet hatte, wusste sie später nicht zu sagen. Sie wurde aus dem Zimmer geführt, draußen saßen weinend German und seine Verlobte Gundel und sie gingen gemeinsam hinüber nach Hause. Das Mädchen wollte sofort abreisen, aber die Kriminalpolizei verlangte, dass sie sich zur Verfügung halten müssten.
Auch Charlene wurde zur Polizei bestellt. Weil das Kind außerehelich geboren war, äußerten sie die schlimmsten Vermutungen, obwohl alle Zeugen ausgesagt hatten, dass es geliebt wurde. Da sie alle, Gundel wie auch ihre Brüder gebeten hatte, aufzupassen, konnte man ihr keinen Strick drehen wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Aber sie fühlte sich schuldig. Warum hatte sie das Baby nicht einfach in den Kinderwagen gesetzt und mitgenommen? Vielleicht hätte sie ja damit die Wartezeit beim Arzt verkürzen können? Heute trugen die Mütter ihre Kinder im Tragetuch auf der Hüfte oder vor dem Bauch, was damals noch nicht üblich war.