Charlenes Abschied 4

Fort aus Dessau

In der Heimatstadt konnte sie damals keine Stelle in ihrem Beruf bekommen, sie verdingte sich als Arbeiterin in einer Großwäscherei. Der Chef dort wollte sie zur Dechateurin ausbilden, aber sie mochte nicht noch mehr Chemie so als Fleckenreinigerin. Sie bewarb sich als Saisonkraft in eine Drogerie mit Fotoabteilung in einem Ostseebad. Per Flugzeug gelangte sie dorthin, der Sohn des neuen Chefs holte sie mit einem klapperigen Auto vom Flugplatz ab. In seinem Zimmer schlafend verbrachte sie dann die Saison, während er auf dem Dachboden auf einer Luftmatratze schlief.
An die See hatte sie sich schon lange gewünscht und sie wollte einen großen, blonden Kapitän kennenlernen. Aber als sie wusste, wen, war sie dem zu klein. Mit dem großen Bruder gemeinsam hatten sie zu Hause immer die Seemannslieder gesungen. Am liebsten das vom Kapitän, der immer lächeln, die Fahne nicht im Sturm untergehen lassen sollte und sogar im Kampf mit einem Hai siegte. Charlene hatte viele Bewerber, wenn sie mit den Kolleginnen zum Tanz ausging. Mit dem Sohn des Dorfarztes hatte sie sich dann eingelassen, wohnte im Arzthaus im Stübchen über der Haustür, bis sie in einer alten Pension, die als Kinderkrippe diente, von der Gemeinde ein Zimmer bekam. Da arbeitete sie als Pflegerin im Feierabendheim.
Dem Arztpapa reichten ihre Kenntnisse aus den zwei, fast drei Jahren bei den Diakonissen für diesen Job. Und sie liebte ihre alten Leute und diesen Dienst, bis sich einer von den alten Herren mit seinem Rasiermesser die Kehle durchschnitt. Das war furchtbar. Er hatte Asthma und fühlte sich in diesem Haus nicht wohl, vermisste seine kürzlich verstorbene Ehefrau so sehr. Einer seiner Zimmerkollegen, sie waren zu fünft im Zimmer, war so bösartig, als er nicht in ein Krankenhaus überwiesen wurde, weil man ihm da auch nur hätte Asthmaspray verabreichen können, zu bemerken, wer wüsste denn, wie lange er sich hier noch herumquälen müsste mit dieser Atemnot. Charlene hatte diesem Kerl zwar vor der Tür ins Gewissen geredet, aber als sie eine Stunde später von der Arbeit im zweiten Stock herunterkam, hatte der Barbier sein scharfes Rasiermesse schon durch seine Kehle gezogen und alles war zu spät.
Danach bewarb sie sich das erste Mal an einem Lehrerbildungsinstitut, denn sie wollte nicht bei den Sterbenden ihr Leben verbringen, lieber mit Kindern zu tun haben. Ihr Freund, der Vollmatrose und Arztsohn, wusste davon nichts. Sie musste ja auch die Bewerbung zurückziehen, weil bald ein Kind unterwegs war. Das war eigentlich geplant, der Seemann wollte gleich heiraten. Die Ringe waren schon bestellt. Aber irgendwann kapierte Lene, dass dies Kind nicht von ihm war, sondern von dem schönen, großen, blonden Kerl, der im Altenheim die Malerarbeiten erledigte und ihr immer heftiges Herzklopfen verursacht hatte, wenn er ihr einfach in den Weg trat und sie zu ihm aufsehen musste. Er erzählte dann, dass seine Frau als Parteigenossin durchgesetzt habe, dass er zur Strafe, weil er im Theater als Theatermaler zu viel mit Mädchen herumgemacht hatte, als Anstreicher bei seinem Schwager arbeiten müsste, wie andere Unliebsame in die Produktion geschickt wurden. Der war einfach nachts auf das Flachdach vor ihrem Fenster gestiegen und hatte sich Zutritt verschafft. Ihr Widerstand war schnell gebrochen. Die Reue nach der Liebe kam zu spät.
Da rauf war ihr erster Suizidversuch gefolgt, Schwangerschaftsdepression würde sie heute meinen. Die ständige Einsamkeit in dem Kaff, wenn der Matrose auf großer Fahrt war, hatte sie zu Fall gebracht. Also trug sie das Kind ohne Vater aus und kehrte damit zu ihrer Mutter zurück. Der große Bruder hatte ein Wort bei der eingelegt, dass sie das Zimmer mit Zugang vom Hausflur mit ihrem Kind bewohnen durfte. Um nichts in der Welt hätte sie jemandem ein Kind unterschieben wollen, das nicht das seine war.
Und wieviel Freude sie dann an diesem Kind gehabt hatten Mutter und sie. Diese wunderschönen, strahlend blauen Augen – die anderen Mieter im Haus nannten dieses Baby immer Blauäuglein. Freilich war auch diese Zeit nicht nur glücklich. Sie hatte in einem VEB Arbeit als Telefonistin und Schreibkraft gefunden, sich freche Anrufe von dort tätigen Mädchen und jungen Frauen gefallen lassen müssen – auch in der DDR war ein außereheliches Kind noch eine Schande – und sich schließlich durch das Händegeben der Arbeiter, wenn sie das Essengeld für die Kantine bei ihr bezahlten, eine Gelbsucht zugezogen. Die Mutter brach sich da gerade das Handgelenk im Urlaub und konnte nicht sofort für den Buben sorgen. Also blieb Charlene noch zu Hause, bis das geschient war. Nach der Zeit im Krankenhaus spielte der Chef vom Personalbüro dauernd verrückt und mahnte sie bei den Ärzten an, als sei sie eine Arbeitsbummelantin. Darum war dann auch das große Unglück geschehen. Charlene sah es heute noch vor sich.
Bruder German brachte Weihnachten seine Verlobte mit nach Hause, eine Lehrerstudentin. Um den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer aufstellen zu können, wurde das Laufställchen von Lenes Söhnchen Jörg fortgeräumt. An besagtem Morgen zwischen Weihnachten und Neujahr, als sie zum Beratungsarzt bestellt war, badete sie ihr Baby früh und stellte es in das ausgeräumte Gitterbettchen, gab ihm etwas Spielzeug hinein und versprach ihm, schnell zurückzukommen und dann mit ihm zu den Gagag-Entchen am Teich zu spazieren. Er konnte mit seinen fast dreizehn Monaten schon Gagag-E-e sagen. Die angehende Schwägerin war siebzehn und beschäftigte sich in der Küche mit Kartoffeln schälen, die Türen zum Wohnzimmer und zum Zimmer des Kindes waren alle offen, sie sollte ein wenig achtgeben.
Im Treppenhaus traf sie ihre Brüder German und Gernot an, die für die Mutter Kohlen aus dem Keller in die Kammer auf halber Treppe schafften, damit die Mutter sie nicht vier Treppen hoch zu schleppen brauchte. Auch denen legte sie nochmal ans Herz, nach ihrem Kind zu sehen inzwischen. Dann eilte sie durch die Parkanlagen zum Arzt. Sie saß für ihr Dafürhalten noch nicht lange, als der Doktor aus der Tür sah, sie aufrief und ihr sagte, sie solle sofort in die Poliklinik gehen. Nachdem er sich schon wieder entfernt hatte, steckte er noch einmal den Kopf aus dem Türspalt um zu sagen, dass sie nicht wieder herzukommen brauche.
Sie wunderte sich sehr und überlegte, was das denn zu bedeuten habe. Wurde sie in der Poliklinik statt hier untersucht? Es erschien ihr zuerst möglich, aber dann erfasste sie heftige Angst. War etwas passiert? Etwas mit dem Kind? Sie jagte nach Hause, die vier Treppen hinauf, was ihr nach der Gelbsucht immer noch schwer fiel. Sie riss die Tür zu ihrem Zimmer auf: Das Kinderbett war leer, überall sah sie schwarze Spuren. Als Gernot kam und fragte, ob sie schon in der Poliklinik gewesen sei, schrie sie ihn an, ob er mit Feuerwerkskörpern rumgeknallt hätte. Er verneinte, er habe nichts gemacht. Gernot war etwa so alt wie Germans Verlobte damals, siebzehn. Das Schwarze war Kohlendreck von Germans Händen.
Sie raste hinüber auf die andere Straßenseite und lief in der Poliklinik die Treppen hoch, weil sie neulich erst dort gewesen war. Jemand unten rief ihren Namen und führte sie in ein Zimmer. Da sah sie das Kind auf einer Liege, überall mit kleinen dunklen Flecken übersät, daneben saß ihre Kinderärztin, die ihr neulich erst gesagt hatte, dass sie ihr in Kinderpflege eine Eins gebe, als Jörg schon nach drei Tagen zu Hause wieder gesund gewesen war, nachdem er mit Erkältung nicht in die Kinderkrippe hatte gehen können. Charlene kniete vor der Liege und streichelte ihr Kind, es war noch warm. Die Ärztin erklärte ihr, dass Jörg sich mit der Trommelschnur um den Hals das Blut zum Gehirn abgestellt hatte, als er sie sich umgehängt und nach draußen geworfen hätte, da war sie wohl quer zu den Gittern hängen geblieben und er von der Matratze abgerutscht und dadurch stranguliert worden. Charlene war außer sich, wieder glaubte sie, dass ihr Bruder durch Silvesterknaller die Flecken verursacht hätte. Nein, das sei gestautes Blut, erklärte die Ärztin. Es war furchtbar, unfassbar, unerträglich.
Nach einer Weile erbot sich ihre Stimme, die Großmutter anzurufen. Sie stimmte ohne Worte zu. Die Kinderärztin kannte ja die Familie seit vielen Jahren, sie wohnte im Nachbarhaus und alle Kinder waren bei ihr Patienten gewesen. Sie fasste Charlene am Arm und half ihr aufzustehen, streichelte ihr über den Kopf, denn sie war viel höher gewachsen als Lene. Wie lange sie da gekniet hatte, wusste sie später nicht zu sagen. Sie wurde aus dem Zimmer geführt, draußen saßen weinend German und seine Verlobte Gundel und sie gingen gemeinsam hinüber nach Hause. Das Mädchen wollte sofort abreisen, aber die Kriminalpolizei verlangte, dass sie sich zur Verfügung halten müssten.
Auch Charlene wurde zur Polizei bestellt. Weil das Kind außerehelich geboren war, äußerten sie die schlimmsten Vermutungen, obwohl alle Zeugen ausgesagt hatten, dass es geliebt wurde. Da sie alle, Gundel wie auch ihre Brüder gebeten hatte, aufzupassen, konnte man ihr keinen Strick drehen wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Aber sie fühlte sich schuldig. Warum hatte sie das Baby nicht einfach in den Kinderwagen gesetzt und mitgenommen? Vielleicht hätte sie ja damit die Wartezeit beim Arzt verkürzen können? Heute trugen die Mütter ihre Kinder im Tragetuch auf der Hüfte oder vor dem Bauch, was damals noch nicht üblich war.

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