Freundschaften und anderes
Sie selbst bewahrte ihre Freundschaften in Treue über viele Jahre. Menschen, mit denen sie einmal innere Übereinstimmung fand, blieben für immer wichtig. Darum fühlte sie sich auch nie wirklich einsam. Egal wieviel Zeit auch vergehen mochte, sie wusste, es bedurfte nur eines aufeinander Zugehens, um die alte Vertrautheit wieder herzustellen, und das trotz aller räumlichen Entfernungen. An ihren Geburtsort band sie keine Freundschaft, nur familiäre Bande. Erst mit der Ablösung von der Mutter waren tiefere Beziehungen entstanden. Jetzt wurden die Verbindungen ob alt oder neu nicht nur über Post und Telefon, sondern auch über das Internet gepflegt, man konnte sich ja sogar sehen beim Telefonieren über Skype. Seit Charlene 1999 ihren ersten PC als Schreibmaschinenersatz erworben hatte, entwickelte sie damit einige Kompetenz.
Aber nun lebte sie wenigstens nicht mehr so weit von den geliebten Kindern entfernt. Wöchentlich ein Besuch war zwar nicht viel, aber solange sie sich selbst versorgen konnte und beide per Telefon rasch zu erreichen und wenn nötig binnen kurzer Zeit per Auto bei ihr waren, fand sie es richtig. Die Tochter war zur näheren Bezugsperson geworden, auf die sie nicht mehr verzichten wollte. Die hatte eine neue Arbeit angenommen und zog nun in den Taunuskreis. Dorthin würde auch sie gehen, dort hatte ihre eigene Mutter vor dem Krieg mit ihrer Herkunftsfamilie gewohnt. Dass nun Tochter und Enkelin hinkamen, war fast eine Heimkehr.
Ihre Mutter Helene heiratete nach Sachsen-Anhalt um ihrem außerehelichen Sohn Ben einen Vater zu geben. German Lange ehelichte sie nicht nur, er adoptierte sogar Ben sofort. Als nun die Heimat nach dem Krieg nur noch ein oder zwei Mal schwarz über die grüne Grenze erreichbar war, hatte Charlene die Großmutter Johanne und den Taunus erlebt, war barfüßig auf den Feldberg gewandert und hatte mit Mutters Freundin Clara den Schwarzwald erlebt. Später ersetzten Thüringen und der Harz diese Landschaften, die immer Helenes Sehnsucht blieben, bis sie Rentnerin war und wieder in den Westen reisen durfte. Aber da lebten ihre Eltern nicht mehr und die Schwestern waren ihr böse, weil sie sich mit ihrem Mann ausgesöhnt hatte, der damals, als er im Osten nicht von Tbc geheilt werden konnte, nach drüben ging und sich operieren ließ. In der Folgezeit lebte er mit einer anderen Frau zusammen, einer Witwe. Die Eltern ließen sich nie scheiden, obwohl die Mutter es damals ablehnte, ihm zu folgen mit den Kindern. Sie hatte sich ein Umfeld geschaffen, in dem sie geachtet und anerkannt war, dort blieb sie und erzog ihre Kinder allein. Die Schwestern und Freundinnen hatten regelmäßig Pakete gesandt, ohne die sie alle diese schwierige Zeit viel weniger gut überstanden hätten. Vielleicht hatten sie, um die Pakete packen zu können, auf manches verzichtet, darum verziehen sie German Lange nie. Als die Mutter mit ihm vor der Tür stand, schlugen sie ihr vor der Nase die Türe zu.
Während einer Wanderung im Taunus brach sich Helene bei einem leichten Fußumknicken den Oberschenkelhals und kam in ein Krankenhaus. Ben wurde von dort informiert und gefragt, ob er einer gründlichen Untersuchung seiner Mutter zustimme. Dabei waren dann die vielen Metastasen, die sich nach dem operierten Brustkrebs im ganzen Körper gebildet hatten, entdeckt worden. German saß im Krankenhaus an Helenes Bett, er wusste Bescheid. Als Charlene und die anderen Brüder es erfuhren, hatte sie nur noch ein Jahr zu leben. Die Saarpfalz mit ihren Wäldern und Bergen, Streuobstwiesen und weiten Feldern, wären für sie ebenso schön gewesen, wie sie es fünfundzwanzig Jahre lang für Charlene gewesen waren. Der Abschied war schwer gewesen. Sind fünfundzwanzig Jahre nicht eine Generation?
Abschied. Mutterseelenallein unterwegs. Hätte sie das alles vorher gewusst, wäre sie wohl wie Helene in Sachsen-Anhalt geblieben und hätte weiter ihr Ziel verfolgt, sich als Textilmalerin selbständig zu machen. Aber die Wende, durch die alle Gesetze der ehemaligen DDR außer Kraft gesetzt waren und in den Behörden auf neue Gesetze gewartet wurde, hatte sie an das Sozialamt verwiesen. Sie, die ihr Leben lang ihr Brot für sich und die Kinder selbst erarbeitet hatte, war wie betäubt einem fremden Wessi in dessen Welt gefolgt, in der Hoffnung, wieder Geld mit eigener Hände Arbeit zu verdienen. Sie konnte nicht begreifen, dass das Arbeitsamt dort sie in eine Fabrik ans Förderband schicken wollte, schließlich war sie Lehrerin gewesen. Nur aus gesundheitlichen Gründen wollte sie nicht mehr in einer Schule arbeiten. Fabrik war doch noch schlimmer! Dass die polnische Ärztin das ebenfalls musste, wie man ihr sagte, konnte sie absolut nicht als Tröstung empfinden. Sie war doch eine Deutsche! Aber nun Deutsche zweiter Klasse, ein Ossi. Sie bekam es überall zu spüren.
So nahm sie die ungeliebte Arbeit in der Gasthausküche des Wessis Arnd auf. Der führte sie als Hilfskraft, obwohl sie völlig selbständig arbeitete. Kochen lernte sie schon mit fünfzehn bei den Diakonissen. In der eigenen Küche beim Kochen für sich und die Kinder war sie zur Feinschmeckerin geworden. Ihrer Nase entging nichts. In der Tätigkeit entwickelte sie ihre Fähigkeiten weiter und konnte bald Vier- bis Fünf-Gänge-Menüs für vierzig Personen zubereiten, für kleinere Gruppen gar acht Gänge. Sie erhielt viel Lob, die Gäste kamen in die Küche, um mit ihr anzustoßen und die Leute kamen immer wieder. Schon ein hübsch zurechtgemachter Salat ließ den Gästen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihre Italienischen Salate waren ein Augenschmaus getreu dem Motto: Die Augen essen mit.
Doch ihr Körper war für schwere Arbeiten nicht geschaffen. Nun hatte sie die Folgen zu tragen für das Bewegen von schweren Pfannen und Töpfen. Arthrose in den Armen, zuerst operierte man sie wegen Tennisarmen, war falsche Diagnose und half natürlich nicht. Und nun noch die schwerere Erkrankung, wegen der das Zerwürfnis mit Arnd seinen Höhepunkt erreicht hatte. Charlene legte jetzt die Füße auf den Sitz gegenüber, es war genügend Platz im Zug.
Wahrhaftig, menschlich und kritisch – das war jetzt ihr Kredo. Wenn schon der Sozialismus als Fehlschlag gilt, so hat es doch andere Deutsche geformt, dachte sie. Bessere? Das Volk auf dem Boden der DDR hatte sich auf das Lesen verstanden. Wer liest, versteht mehr von der Welt, wenn auch zuerst die Weltläufigkeit aus Mangel an Anschauung gering war. Irgendwo musste sich dann jeder beweisen, was oft schwer fiel, oft immer noch schwer ist. Die jungen Leute werden die Zukunft ändern, hofft sie, Kritik üben an den Unzulänglichkeiten wie gewohnt und zupacken. Die wollen ihr Leben nicht im „Knast der Arbeit“ verbringen, sondern in Übereinstimmung mit ihren Emotionen und Bedürfnissen schöpferisch im Team schaffen. Kooperation ist vielen wichtiger als Wettbewerb und gute Posten, das Familienleben, Urlaub und Reisen kann man nur genießen, meinen sie, wenn der Alltagsstress sie nicht vorher krank macht. Sie mögen keine Chefs, die ihnen die Arbeit aus mehreren, nicht mehr bezahlbaren Stellen aufhalsen, ohne selbst in der Lage zu sein, ihre Mitarbeiter zu loben und zu motivieren, weil sie hektisch und ohne Gesamtüberblick von einem Teilbetrieb zum anderen jagen. Eine Vorgesetzte oder ein Vorgesetzter muss ihnen klare Ansagen vermitteln, das Mitdenken nicht nur erlauben, sondern auch schätzen.
Gerade darin ist die junge Generation streitbar. Sie unterstützen mit Vehemenz die Streiks aus den anderen Berufen mit entropischer Arbeit, weil die immer noch zu niedrig bezahlt werden. Köchinnen, Serviererinnen, Kindergärtner, Pfleger, Sozialarbeiter aus den verschiedenen Gewerben und Dienstleister, die reparieren, warten, putzen und die Wirtschaft in der Produktion mit ihrer Arbeit zyklischer Natur am Laufen halten, ohne dass eine dauernde Wirkung und Sichtbarkeit erfolgt, weil sie leicht wieder zu Nichte wird und zurück in Unordnung gerät. Man kann Straßen mit Maschinen kehren, Rasen mit Mäher schneiden, Bäume und Hecken mit Elektrowerkzeug kürzen und formen, Bäche und Flüsse ausbaggern und Autobahnen neu teeren, aber die Menschen, die das tun, brauchen oft jahrelange Ausbildung, ohne dass sich dies später im Lohn widerspiegelt.
Charlene hatte in vielen verschiedenen Berufen ihre Erfahrungen gesammelt. In der ehemaligen DDR konnte eine Maschinistin, die landwirtschaftliche Geräte in den LPG reparierte, gutes Geld verdienen wie die Männer. Aber im Westen scheuten sich die Werkleiter, weibliche Schlosser, Elektriker und Mechanisten einzustellen, obwohl sie die geringer bezahlten, weil sie dann extra Sanitäranlagen zur Verfügung stellen mussten. Das sei zu teuer.
Charlene glaubte, dass bald Betriebe entstehen würden, die ganz auf Frauen setzten, weil die zuverlässig, genau und mindestens ebenso effektiv wie Männer arbeiteten, oft sogar besser. Sie selbst würde, so hatte sie sich vorgenommen, wenn der erneute Umzug realisiert war, noch einmal arbeiten. Das, was sie zu beherrschen glaubte, war die deutsche Sprache. Also würde sie ausländische Mütter unterrichten wollen, während deren Kinder in der Schule oder im Kindergarten und Hort lernten. dann würden sie ihren Töchtern und Söhnen besser bei den Hausaufgaben helfen können, deren Aussprache kontrollieren und nicht mehr so hilflos sein beim Einkaufen. Gleichzeitig könnten diese Frauen sich untereinander helfen, Kochrezepte und Erfahrungen austauschen und sich in diesem bisher fremden Sprachraum heimisch machen. Ach, sie hatte schon Pläne im Kopf, wie sie das anfangen würde. Langweilig konnte das mit all ihren Ideen für niemanden werden. Lene fühlte sich sozial kompetent, schließlich hatte sie selbst Kinder großgezogen, eine Lehrerausbildung in der DDR gehabt und ein Literaturstudium absolviert. Nur die eigene Gesundheit müsste noch eine Weile mitspielen. Dann wäre sie selbst unter Menschen und in den Strom der Zeit eingebunden. Was gäbe es Schöneres?
Am nächsten Bahnhof musste Lene umsteigen. Darum erschrak sie bei der Durchsage, dass ihr Zug fünfundzwanzig Minuten Verspätung haben würde, weil sie jetzt halten und einen schnelleren Zug durchlassen mussten. Über die zehn Minuten bisher hatte sie sich weiter nicht gegrämt, denn die hätten noch aufgeholt werden können. Aber ihr Aufenthalt betrug nur 45 Minuten bis zur Abfahrt des Anschlusszuges. Nun wurde das eventuell prekär, wenn der andere nicht auf diesen wartete.
Sie holte ihre Brille und das winzige Handy heraus und wählte die Bahnauskunft. Wenn der Anschlusszug nicht warten würde, erfuhr sie, konnte sie erst 1 ½ Stunden später oder in einem langsameren Zug weiterfahren. Mein Gott, dachte sie, was nützt alle Planung, wenn die Bahn unpünktlich fuhr. Dabei war die Eisenbahn mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben und damit viel umweltfreundlicher als die konkurrierenden Fernbusse, die im Übergang zum Solarzeitalter hoffnungslos veraltet waren mit ihrem Benzin oder Diesel aus Erdöl. Dafür wollten die sogar Frecking erlauben wollen, diese Umweltzerstörung in Höchstpotenz. Der Biodiesel ist auch nicht das Gelbe vom Ei, denn da werden wieder arme Länder ausgebeutet, die statt Nahrung für ihre Bevölkerung anzubauen, für die reichen Länder Raps, Lein oder Sonnenblumen anbauen. Dabei sterben täglich in der Welt Menschenkinder aus Hunger. Dauernd begegnet man diesen Versuchungen, zu Sachen zu greifen, die man doch ablehnt. Der Sänger scheint recht zu behalten: Das Böse ist immer und überall.