Berühmte Abschiedszeilen meldeten sich aus den Gedächtnistiefen: Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften, ihr traulich stillen Täler, lebet wohl. Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln. Johanna sagt auf ewig lebe wohl.
Charlene verließ die Parkbank und ging an der Poliklinik vorbei noch einmal zu dem großen Backsteinhaus, in dem sie unter dem Dach geboren und aufgewachsen war. Heute standen die Wohnungen dort oben leer, keine gefüllten Blumenkästen schmückten mehr die Giebelfenster, wie damals. Oft hatte sie den Auftrag bekommen, die abgeblühten Teile daraus zu entfernen. Dann klebten die Finger und sie hatte den starken Geruch der Petunien an den Händen, einen unvergesslichen Geruch, nicht unangenehm, eben einzigartig. Doch ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder blieb der Geruch nicht im Gedächtnis haften, er erinnerte sich nur an diese Blumen, weil er sie als Fallschirme nach unten fallen ließ.
Charlene hatte einmal einer Puppe aus der Puppenstube, die sie in ein selbst gebasteltes Glashaus im Blumenkasten gesetzt hatte, aus einer Petunienblüte mit gewelltem Rand einen Rock gemacht, indem sie das schmale Ende abschnitt. Der Boden dieses Hauses war ein Spiegel auf einer Pappe, unter der eine kleine Batterie verborgen war und wenn sie die Puppe darauf setzte, bekam eine kleine Glühlampe Kontakt und leuchtete zwischen den Blumen auf. Lene konnte sich stundenlang allein mit so etwas beschäftigen, wie alt sie da gewesen sein mochte, wusste sie nicht.
Aber schon mit neun Jahren erwischte die Mutter sie an der verbotenen Nähmaschine, wo sie winzige Puppenkleider nähte. Das war ja noch keine elektrische, man musste mit den Füßen auf die verschnörkelte Metallgussplatte treten, um dem Räderwerk Schwung zu verleihen um die Nadel zu bewegen. Sie hatte der Mutter oft beim Nähen zugesehen und die staunte nun nicht schlecht, dass die Tochter es zuwege brachte. Zwar schimpfte sie nun nicht, aber Ermahnungen erfolgten selbstverständlich, nicht nur, weil die Nadel leicht hätte abbrechen können, sondern auch, weil etwas dabei hätte passieren können.
Charlene lächelte innerlich, als sie an die erste Schwägerin dachte, die junge Frau, die der ältere Bruder geheiratet hatte. Dieser war das Malheur passiert, sich beim Nähen und Nachschieben des Stoffes die Nadel durch den Finger zu jagen. Vor Schreck blieb sie so sitzen, bis ihr Mann nach Hause kam und wagte nicht, sich selbst zu helfen. Das war ihr selbst nicht mal als Kind passiert, aber dafür war sie auch so konzentriert und vertieft gewesen, dass sie die Mutter nicht hatte kommen hören.
Das Kind Charlene liebte Steine. Immer wieder bückte sie sich und die schönsten sammelte sie in einem alten Nähkasten, den man so nach außen verschieben konnte, dass drei Etagen einsehbar waren, sortiert nach Größen und Farben. Bis die Mutter in einem Wutanfall beim Aufräumen die ganze Sammlung in den ummauerten Aschebehälter, die sogenannte Aschenkute für das ganze Haus, entsorgte. Lene kroch durch die Luke hinein, aber da Steine schwerer sind als Asche, war eine Rettung unmöglich. Sie hatte bitterlich geweint und es ihrer Mutter lange nicht verzeihen können.
Jetzt stieg sie die fünf Stufen zum Eingangsportal hinauf und schaute oben über die Mauer. Die Aschenkute war abgerissen und es standen nur wie überall die Plastikaschekübel mit den Namen der Mieter dort. Allerdings waren hier noch keine Vorhängeschlösser dran, wie sie es vor anderen Mietshäusern gesehen hatte. Ja, heutzutage war die Müllabfuhr nicht mehr im Mietpreis inbegriffen, jede Familie muss selbst die Müllgebühren tragen.
Mit ebenfalls neun Jahren war Charlene damals dem Schwimmverein beigetreten. Sehr früh im Jahr suchten sie gemeinsam per Fahrrad das Freibad auf, um zu schwimmen. Da Leni sehr dünn war, mussten die größeren Mädchen sie lange frottieren, wenn sie aus dem Wasser kamen, um sie wieder warm zu kriegen. Weil hier in der Stadt damals keine Schwimmhalle existierte, turnten die Schwimmerinnen den ganzen Winter über in der Turnhalle des Gymnasiums an den Geräten. Sie lernte eine gute Körperbeherrschung, aber als die Mutter sie auf ihren Wunsch hin mit zwölf Jahren beim Ballett angemeldet hatte, traktierte die Ballettmeisterin sie immer wieder mit ihrem Stöckchen und monierte ihre „eckigen“ Bewegungen. Angeblich war sie auch zu klein gewachsen, um irgendwann einmal auf der Bühne zu stehen, darum gab sie es rasch wieder auf. Die Mutter sollte ja nicht dafür bezahlen, dass ihr Kind geschlagen wurde. Charlene hatte bemerkt, dass andere Mütter nicht nur bezahlten, sondern Pralinen und Likör mitbrachten. Deren Töchter wurden besser behandelt.