Zum Heulen, was alles in Gesamtausgaben enthalten ist

Gelesen und ausgesucht am 6.4.16 nachmittags

Das Werk des Bulgaren Atanas Daltschew (1904 – 1978) ist nicht umfangreich. Neben einem knappen Hundert Gedichte sowie bedeutenden Nachdichtungen und Übersetzungen (u. a. Lafontaine, Goethe, Hölderlin, Rimbaud, Verlaine; Montaigne, Pascal) umfasst es Aphorismen, Tagebuchnotizen sowie Äußerungen zu Literatur und Literaturkritik. Zwei dieser „Fragmente“ charakterisieren den Dichter:
„Manche meinen, es sei der größte Vorzug des Blankverses, dass er die Gefühle unmittelbarer zum Ausdruck zu bringen ermögliche. Meiner Meinung nach ist das sein größter Nachteil. Denn die Kunst, die nichts gemein hat mit irgendwelchen Beichten, beginnt jenseits alles Unmittelbaren; sie ist um so bedeutender, einer je gründlicheren Bearbeitung das sinnliche Material unterzogen wird.“ Und: „Für den Dichter stellt das Wort außer seiner Bedeutung eine eigentümliche Lautverbindung dar. Es hat eine bestimmte Länge und ein spezifisches Gewicht, eine besondere Färbung und eine eigene Atmosphäre. Deshalb gibt es für den Dichter keine Synonyme; kein Wort ist ihm ersetzbar. Er sieht, hört, betastet und fühlt es. Wer diese sinnliche, wenn man will, materielle Beziehung zum Wort nicht besitzt, ist kein Dichter.“
Atanas Daltschew, Fragmente, 1982, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Aus dem Bulgarischen übersetzt und herausgegeben von Norbert Randow mit einem Frontispiz
DDR 2,50 M

Fragment aus dem Inhalt
„Die künstlerische Entwicklung des Dichters
Ich bin gegen die Gesamtausgaben unserer Dichter und Schriftsteller der Vergangenheit, in denen unterschiedslos alles gesammelt ist, was sie je geschrieben haben: auch das, was sie nicht in Buchform herausgegeben haben oder mit dessen Aufnahme, lebten sie noch, niemals einverstanden sein würden. Wenn so eine vollständige Ausgabe bei einem Klassiker wie Wasow anlässlich eines großen Jahrestages immer noch einen Sinn hat, kann sie für die anderen nur zu deren Ungunsten ausfallen.
Die im Verlag <> erschienene Ausgabe der Gedichte von Dimtscho Debeljanow (Herausgeber: Ljudmil Stojanow) mit den neu hinzugekommenen Gedichten muss denjenigen enttäuschen, der die erste, von Podwyrsatschow, Liliew und Konstantin Konstantinow besorgte Ausgabegelesen hat. Einen noch bedrückenderen Eindruck hinterlässt die neue zweibändige Ausgabe. Nur mit Mühe findet man in diesem umfangreichen Band <> von Dimiter Bodjadshiew, ebenfalls im Verlag <> erschienen, jene acht oder neun Gedichte, die ihren Autor zu einem der größten bulgarischen Lyriker machen. Jemand, der ihn zum erstenmal liest, riskiert, das Buch nach den ersten paar Jugendgedichten darin beiseite zu werfen.
Die Herausgeber dieser Ausgabe werden einwenden, sie hätten die künstlerische Entwicklung des Dichters verfolgen wollen. Schön und gut. Damit hätten sie jedoch dort beginnen müssen, wo er tatsächlich zum Dichter wurde, und nicht dort, wo er anfing zu schreiben. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Lesern auch seine Windeln zu zeigen. Das ist zudem auch gar nicht interessant. Gewöhnlich unterscheiden sich die Dichter in ihren Anfängen nicht voneinander: So gut wie alle Flüsse, auch die größten, beginnen als kleine Bäche.“ 314

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