Archiv für den Monat: August 2015

Charlenes Abschied 2

Berühmte Abschiedszeilen meldeten sich aus den Gedächtnistiefen: Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften, ihr traulich stillen Täler, lebet wohl. Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln. Johanna sagt auf ewig lebe wohl.

Charlene verließ die Parkbank und ging an der Poliklinik vorbei noch einmal zu dem großen Backsteinhaus, in dem sie unter dem Dach geboren und aufgewachsen war. Heute standen die Wohnungen dort oben leer, keine gefüllten Blumenkästen schmückten mehr die Giebelfenster, wie damals. Oft hatte sie den Auftrag bekommen, die abgeblühten Teile daraus zu entfernen. Dann klebten die Finger und sie hatte den starken Geruch der Petunien an den Händen, einen unvergesslichen Geruch, nicht unangenehm, eben einzigartig. Doch ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder blieb der Geruch nicht im Gedächtnis haften, er erinnerte sich nur an diese Blumen, weil er sie als Fallschirme nach unten fallen ließ.
Charlene hatte einmal einer Puppe aus der Puppenstube, die sie in ein selbst gebasteltes Glashaus im Blumenkasten gesetzt hatte, aus einer Petunienblüte mit gewelltem Rand einen Rock gemacht, indem sie das schmale Ende abschnitt. Der Boden dieses Hauses war ein Spiegel auf einer Pappe, unter der eine kleine Batterie verborgen war und wenn sie die Puppe darauf setzte, bekam eine kleine Glühlampe Kontakt und leuchtete zwischen den Blumen auf. Lene konnte sich stundenlang allein mit so etwas beschäftigen, wie alt sie da gewesen sein mochte, wusste sie nicht.
Aber schon mit neun Jahren erwischte die Mutter sie an der verbotenen Nähmaschine, wo sie winzige Puppenkleider nähte. Das war ja noch keine elektrische, man musste mit den Füßen auf die verschnörkelte Metallgussplatte treten, um dem Räderwerk Schwung zu verleihen um die Nadel zu bewegen. Sie hatte der Mutter oft beim Nähen zugesehen und die staunte nun nicht schlecht, dass die Tochter es zuwege brachte. Zwar schimpfte sie nun nicht, aber Ermahnungen erfolgten selbstverständlich, nicht nur, weil die Nadel leicht hätte abbrechen können, sondern auch, weil etwas dabei hätte passieren können.
Charlene lächelte innerlich, als sie an die erste Schwägerin dachte, die junge Frau, die der ältere Bruder geheiratet hatte. Dieser war das Malheur passiert, sich beim Nähen und Nachschieben des Stoffes die Nadel durch den Finger zu jagen. Vor Schreck blieb sie so sitzen, bis ihr Mann nach Hause kam und wagte nicht, sich selbst zu helfen. Das war ihr selbst nicht mal als Kind passiert, aber dafür war sie auch so konzentriert und vertieft gewesen, dass sie die Mutter nicht hatte kommen hören.
Das Kind Charlene liebte Steine. Immer wieder bückte sie sich und die schönsten sammelte sie in einem alten Nähkasten, den man so nach außen verschieben konnte, dass drei Etagen einsehbar waren, sortiert nach Größen und Farben. Bis die Mutter in einem Wutanfall beim Aufräumen die ganze Sammlung in den ummauerten Aschebehälter, die sogenannte Aschenkute für das ganze Haus, entsorgte. Lene kroch durch die Luke hinein, aber da Steine schwerer sind als Asche, war eine Rettung unmöglich. Sie hatte bitterlich geweint und es ihrer Mutter lange nicht verzeihen können.
Jetzt stieg sie die fünf Stufen zum Eingangsportal hinauf und schaute oben über die Mauer. Die Aschenkute war abgerissen und es standen nur wie überall die Plastikaschekübel mit den Namen der Mieter dort. Allerdings waren hier noch keine Vorhängeschlösser dran, wie sie es vor anderen Mietshäusern gesehen hatte. Ja, heutzutage war die Müllabfuhr nicht mehr im Mietpreis inbegriffen, jede Familie muss selbst die Müllgebühren tragen.
Mit ebenfalls neun Jahren war Charlene damals dem Schwimmverein beigetreten. Sehr früh im Jahr suchten sie gemeinsam per Fahrrad das Freibad auf, um zu schwimmen. Da Leni sehr dünn war, mussten die größeren Mädchen sie lange frottieren, wenn sie aus dem Wasser kamen, um sie wieder warm zu kriegen. Weil hier in der Stadt damals keine Schwimmhalle existierte, turnten die Schwimmerinnen den ganzen Winter über in der Turnhalle des Gymnasiums an den Geräten. Sie lernte eine gute Körperbeherrschung, aber als die Mutter sie auf ihren Wunsch hin mit zwölf Jahren beim Ballett angemeldet hatte, traktierte die Ballettmeisterin sie immer wieder mit ihrem Stöckchen und monierte ihre „eckigen“ Bewegungen. Angeblich war sie auch zu klein gewachsen, um irgendwann einmal auf der Bühne zu stehen, darum gab sie es rasch wieder auf. Die Mutter sollte ja nicht dafür bezahlen, dass ihr Kind geschlagen wurde. Charlene hatte bemerkt, dass andere Mütter nicht nur bezahlten, sondern Pralinen und Likör mitbrachten. Deren Töchter wurden besser behandelt.

Charlene nimmt Abschied

Die Sache mit dem jüngeren Bruder

Sie griff nach einem Eichelpaar neben sich und begann es am Stiel zu drehen. Als die Sonne, vom Wasser gespiegelt, in ihr Gesicht schien, schloss sie kurz die Augen und entnahm dann der Handtasche die Sonnenbrille. Vor zwei Jahren hatte sie wegen des grauen Stars ihre Augen operieren lassen. Da waren nun künstliche Linsen drin, mit denen sie sehr gut sah, nur zum Lesen benötigte sie eine Brille. Aber seit der Operation findet sie die Augen noch empfindlicher als früher, sie tränten schnell. Sogar das Leitungswasser beim Waschen brannte, was früher nur in den Badeanstalten geschah. Sie hatte immer angenommen, dass es vom Chlor kam. Ihren ziemlich kurzen, kräftigen Fingern spielten immer noch mit den Eicheln.
Warum saß sie immer noch hier auf der harten Holzbank?
Hier ist sie einmal zu Hause gewesen, bis sie vierzehn Jahre alt war und später noch einige Male, solange die Mutter noch lebte. In diesen Anlagen war sie als Kind mit dem hölzernen Puppenwagen und der Stoffpuppe mit dem Porzellankopf und ebensolchen Händchen dem etwas mehr als ein Jahr jüngeren Bruder nachgefahren, auf den sie aufpassen sollte. Er war damals drei und in der Trotzphase. Sie konnte ihn nicht davon abhalten, einem etwas älteren Jungen zu folgen, der zur Vogelwiese ging und laut prahlte, wie viele Karussells und Buden es dort gebe. Der Junge hatte etwas Geld und wollte sich Bonbons kaufen und auf ein Pferd oder einen Löwen steigen, die dort im Karussell ihre Runden drehten.
Der Weg führte sie von der einen Parkanlage an der Kasernenfront vorbei in die nächste, die am früheren Stadtgraben entstanden waren. Hinter dem kleinen Schwanenteich bog der größere Junge ab und ging über eine befahrene Straße immer weiter westwärts. Brüderchen folgte ihm stur und Leni hatte Mühe, den Puppenwagen heil hinüber zu bringen.
Auf dem Rummelplatz angekommen verlor sie ihn rasch im Gedränge aus den Augen und suchte beharrlich nach ihm. Es wurde heiß und sie zog Schuhe und Strümpfe aus und bugsierte die Schnürstiefel und Kniestrümpfe unter die Kissen im Puppenwagen. Als sie müde und hungrig wurde, machte sie sich allein auf den Heimweg. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und Angst, dass der Bruder ganz verloren gegangen sei und sie Schläge zu erwarten habe. Schließlich war der Bruder Vaters Stammhalter, sie war nur die Tochter.
Nachdem sie den Heimweg und die vier Treppen bewältigt hatte, ging sie oben in die Gemeinschaftstoilette der drei hier wohnenden Familien und zog Schuhe und Strümpfe wieder an. Schleifen binden konnte sie noch nicht und ihr blieb unbemerkt, dass sie den rechten und den linken Schuh an die verkehrten Füße gezogen hatte.
Da kam der ältere Stiefbruder die Treppen herauf und rief laut: „Sie ist wieder da.“
Er hatte stundenlang die jüngeren Geschwister gesucht.
Die Mutter öffnete die Wohnungstür und schloss ihr Mädchen in die Arme, um das sie sich sehr geängstigt hatte. Den kleinen Bruder hatte ein Nachbar entdeckt und schon vor Stunden nach Hause gebracht. Die erwartete Strafe blieb aus.
Berühmte Abschiedszeilen meldeten sich aus den Gedächtnistiefen: Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften, ihr traulich stillen Täler, lebet wohl. Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln. Johanna sagt auf ewig lebe wohl.

Charlene verließ die Parkbank und ging an der Poliklinik vorbei noch einmal zu dem großen Backsteinhaus, in dem sie unter dem Dach geboren und aufgewachsen war. Heute standen die Wohnungen dort oben leer, keine gefüllten Blumenkästen schmückten mehr die Giebelfenster, wie damals. Oft hatte sie den Auftrag bekommen, die abgeblühten Teile daraus zu entfernen. Dann klebten die Finger und sie hatte den starken Geruch der Petunien an den Händen, einen unvergesslichen Geruch, nicht unangenehm, eben einzigartig. Doch ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder blieb der Geruch nicht im Gedächtnis haften, er erinnerte sich nur an diese Blumen, weil er sie als Fallschirme nach unten fallen ließ.
Charlene hatte einmal einer Puppe aus der Puppenstube, die sie in ein selbst gebasteltes Glashaus im Blumenkasten gesetzt hatte, aus einer Petunienblüte mit gewelltem Rand einen Rock gemacht, indem sie das schmale Ende abschnitt. Der Boden dieses Hauses war ein Spiegel auf einer Pappe, unter der eine kleine Batterie verborgen war und wenn sie die Puppe darauf setzte, bekam eine kleine Glühlampe Kontakt und leuchtete zwischen den Blumen auf. Lene konnte sich stundenlang allein mit so etwas beschäftigen, wie alt sie da gewesen sein mochte, wusste sie nicht.