Archiv für den Tag: 24. September 2015

Die herrlich verrückte Welt 16.

Sie gehen durch den Laden in die Küche. Cheryl kocht Kaffee, aber es ist Abendbrotzeit und so essen sie bald gemeinsam, während Lilo erzählt: Als du weg warst von der Uni dein Mütterchen pflegen, habe ich mein Diplom als Kunstlehrerin gemacht und bin in den Schuldienst gegangen, das war vor acht Jahren. Aber bald spielten meine Nerven nicht mehr mit, die Beine haben versagt. Vor drei Jahren wurde ich nach langem Hin und Her berufsunfähig mit einer kleinen Rente. Ich bin dann mit meiner langjährigen Freundin Moni zusammengezogen und im Vorjahr nach Edenbach. Wir wohnen hier ganz gemütlich. Ich mache den Haushalt, Moni ist dauernd auf Achse, da kann ich nicht mithalten. Als ich von dir erfuhr, wusste ich gleich, wer du bist. Hier im Ort komme ich nicht viel rum wegen der Beine, habe mich aber inzwischen ganz gut erholt. Deinen Laden hatte ich noch nicht entdeckt. Du bist wohl auch noch nicht lange hier.
Stimmt. Seit Oma Goldinger tot ist, habe ich den Laden und ich male wieder.
Musst du mir nachher zeigen.
Und was war das für´n Spruch mit dem Monster Glöckchen?
Lilo holte eine kleine Handpuppe aus der Tasche, setzte sie auf den Finger und wackelte damit klingelnd vor Cheryls Nase herum.
Mit dem Monster Glöckchen gehe ich in das Flüchtlingslager und spiele mit den Kindern dort. Sie kommen neugierig, sobald ich da bin, denn einige kennen mich inzwischen. Die können schon „Guten Tag, Glöckchen!“ sagen und wissen, dass alle ihre Namen sagen sollen, die ich dann nachspreche. Ich versuche ulkig zu sein und sie zum Lachen zu bringen. Viele haben Schlimmes erlebt und vertrauen niemandem mehr. Oft kommen dann die Mütter und wenn eine ein bisschen Englisch spricht, können wir uns sogar verständigen. Dann besorge ich Dinge, die sie nötig brauchen. Die hilfsbereiten Leute können sich oft nicht vorstellen, was das ist. So Hygieneartikel, Windeln, Haarbürsten, sogar Lockenwickler habe ich einer besorgt. Die ist sehr glücklich und kommt immer gleich mit drei Kindern wie die Orgelpfeifen. Du müsstest das erleben.
Ich habe im Internet gesehen, wie bedrückend die Situation in vielen Lagern für Frauen mit ihren Kindern ist.
Ja. Jetzt bibbern sie vor Kälte, aber Kleidung ist relativ schnell gebracht worden. Da gibt es Hausfrauen, die das verwalten, damit nichts als Müll auf den Lagerstraßen rumfliegt. Die waschen auch schon zu Hause mit ihren Waschmaschinen Kinderkleidung. Jetzt war da ein Lausbefall, den wir aber relativ schnell unter Kontrolle hatten. Auch hier im reichen Deutschland gab es vor einiger Zeit Läuse. Das ist tückisch, wenn man sich nicht auskennt. Kinder stecken schnell die Köpfe zusammen und im Nu sind Nissen da. – Na ja. Meine Großmutter konnte noch aus der Nachkriegszeit ein Lied davon singen, aber jetzt schütten wir kein Petroleum mehr auf die Köpfe. Die Ärztin, die manchmal kommt, ist schon drauf geeicht.
Dass du das so kannst. Ich tu mich immer schwer mit Leuten, die mir fremd sind, obwohl der Laden vieles mit sich bringt, das mir völlig unbekannt war vorher.
Du warst schon immer ein Sensibelchen.
Das musst gerade du sagen!
Cheryl war glücklich, endlich jemanden von früher neben sich zu wissen. Mit Lieselotte waren sie in mancher Studentenkneipe versackt. sie waren immer die einzigen, die nicht mit Kerls abgezogen sind. Cheryl, weil sie innerlich immer noch an ihrem Lehrer hing, Lilo, weil sie offen lesbisch lebte. Monika Mai war da auch schon manchmal dabei. Aber Cheryl hatte sie nicht so dürr und mit dem kurzen Haarschnitt in Erinnerung. Damals hatte die noch Locken und einmal sogar ´ne Bürste und an den Seiten abrasiert. Darum hatte sie sie nicht erkannt.
Lilo schaute sich Cheryls Bilder an, die ihr nicht so gut gefielen. Sie war mehr für die abstrakte Malerei. Aber das Häuschen in seiner Kargheit und zugleich so farbenfroh und abwechlungsreich, sagte ihr sofort zu.
Die Katzen waren gleich um Lilo herum. Sicher roch sie gut für sie. Und sie fühlten wieder, dass es Cheryl gut ging mit ihr.
Plötzlich ging unten das Telefon, da fiel ihr ein, dass sie Tim ganz vergessen hatte und weil es schon aufgehört hatte zu klingeln als sie runter kam, rief sie bei ihm an und erzählte, dass sie plötzlich Besuch hatte. Er fragte, ob er dann zu ihr kommen solle.
Aber ja! Lilo wird gleich wieder abgeholt. Komm nur.
Es wurde noch ein schöner Abend mit viel Zukunftsmusik. Alles war auf den besten Weg gebracht.
Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden, würde Oma Goldinger sagen, und so sahen die beiden Liebenden das auch.
Wer Gutes tun will, muss sich nicht wundern, wenn die Leute ihm Steine in den Weg legen, meinte Timm. Da wird noch einiges auf dich zukommen.
Aber klaro!

Die herrlich verrückte Welt 15.

Der Schulze Mayer interessiert sich für sie. Er bewundert ihre Courage auf dem Markt und so. Schließlich ist er ein einsamer Mann und noch nicht jenseits von gut und böse.
Meinen sie etwa, der ist verliebt in mich, ein altes Marktweib? Das ist aber echt komisch!
Sie lächelt.
Seine Frau hat ihn damals mit einem schwarzen Amerikaner betrogen und ist auf und davon. Ich glaube, dass ihm ein wenig mütterliche Zuwendung und weibliche Freundlichkeit gut täten. Sie haben gesehen, wie es um ihn steht.
Ei freilich, so ein Mannsbild verloddert leicht allein.
Das sehe ich auch so. – Möchten sie mit mir Pellkartoffeln und Quark essen? (Etwas Besseres zu kochen hat sie inzwischen aufgegeben.) Jetzt ist es doch zu spät für sie, noch was zu machen.
Das kann ich doch nicht annehmen.
Warum nicht, unter Nachbarinnen?
Sie haben sie mit Kümmel gekocht, es riecht gut. Also einverstanden.

Am Nachmittag stellt sich Dillgarten mit ausgearbeitetem Vertrag für Frau Traub ein. Er berichtet, dass er noch keinen Rechtsanwalt gefunden hat, der zu helfen bereit ist.
Sofort denkt Cheryl an Aris, der muss wieder zaubern, damit kein Stillstand in dieser dramatischen Flüchtlingssituation entsteht. Wo doch die Bauarbeiten bald anfangen müssen.
Dillgarten ist ganz beim Projekt. Ich dachte, dass man den Samariterdienst bitten sollte, schnellstens Schlafgelegenheiten in den Tanzsaal zu stellen. Das rote Kreuz hat vielleicht bewegliche Raumteiler von den Kursen, die sie manchmal abhalten oder den Blutspendeaktionen.
Wenn der Kunstverein Stellwände hätte, die momentan nicht benötigt werden, könnten die es auch tun. Cheryl denkt an den Verein, der schon mehr als eine Ausstellung initiiert hat. Warum sollte man die in solch einer Situation nicht bitten? Die allgemeine Hilfsbereitschaft ist jetzt hoch.
Gut. Lesen sie sich das mal durch.
An dem Vertrag scheint ihr alles in Ordnung.
Ich kann aber jetzt aus dem Laden nicht fort, erst 16.30 Uhr. Sie könnten schon zu der Wirtin fahren und sie vorbereiten.
Okay. So machen wir das.
Als Cheryl dann per Fahrrad „Am Mühlgraben“ ankommt, ist gerade das Ausladen von Hilfsgütern im Gange. Frau Traub dirigiert aus der Küche, was ins Kühlhaus muss und was gleich zur Verarbeitung für das heutige Essen genommen werden kann. Auch in der Gaststube ist Betrieb. Die Wirtin muss aus der Küche an den Zapfhahn. Die Stammgäste aus der Rentnergarde sind schon da. Einer hilft sogar ausladen beim Fleischer draußen.
Ganz schönes Gewimmel, denkt Cheryl und schließt ihr Fahrrad am Ständer vor der Wirtshaustür an.
Drinnen sucht sie Dillgarten vergeblich, bis sie von jemandem in den Tanzsaal geschickt wird. Dort findet sie außerdem Aris mit einem Fremden im Gespräch. Als sie näher kommt, hört sie, dass um die Außentür vom Tanzsaal auf die Straße verhandelt wird. Diese ist nach heutigen Maßstäben nicht stabil und sicher genug und soll als erstes vor Baubeginn erneuert werden. Der Fremde wird ihr als Kunibert Berthel vorgestellt und Spezialist für öffentliche Großprojekte, ein Baumensch also. Er hat schon alles mit Aris inspiziert, bevor Dillgarten eingetroffen ist. Die Örtlichkeit findet er für das Vorhaben angemessen und verabschiedet sich rasch.
Auf dem Fußboden fällt Cheryl ein Kreidestrich auf.
Aris informiert: Da soll die Mauer hin.
Ein Problem gibt es: Soll der neue Raum ein Durchgangszimmer werden? Sonst muss ein Flur daneben einkalkuliert werden.
Ach je! Klaro! Was meinen Sie?
Die Besprechung geht weiter. Plötzlich fällt Cheryl Tim ein. Der weiß nicht, wo sie ist, falls er im Laden anruft. Sie will ja heute Abend bei ihm die besonderen Kartoffelpuffer essen.
Aris steht neben ihr und knufft sie in den Arm.
Ja? Ich muss nach Hause und telefonieren. Will heute noch nach Betten oder Liegen forschen, mich um Stellwände kümmern und ein bisschen Privatleben habe ich auch noch.
Tolle Ideen, aber ich habe es schon organisiert. Aris grinst sie unverschämt an.
Das tut ihr gut. Du bist ein verlässlicher Mensch, meine natürlich „sie“.
Macht nix. Ich würde auch gern „du“ sagen zu meinem Goldkind. Die Verbrüderung können wir dann mal nachholen.
Dillgarten stimmt in das Gelächter ein. Der Saal hat einen Wiederhall und klingt nun fröhlich. Cheryl atmet tief durch. Man muss seine Kräfte schonen.
Gemeinsam suchen sie die Wirtin und die Papiere sind schnell unterzeichnet. Dann sucht Cheryl das Weite. Dieser Trubel behagt ihr nicht, weil sie darin eine Rolle spielt, die ihr nicht passt.
Als sie mit dem Radel an ihrem Laden vorfährt, steht da der Smart von Frau Mai. Eine Frau mit einem langen roten Zopf steigt aus und ruft in das Auto zurück: Hol mich in einer Stunde wieder.
Sie kommt auf Cheryl zu und lacht breit: Ich bin das Monster Glöckchen und war einmal ein Söckchen. Und wer bist du?
Lilo?
Nein Lilo bin ich, mein Goldkind.
Mensch, wo kommst du denn auf einmal her?
Siehste doch.
Mais Smart fährt davon und Cheryl und Lilo umarmen sich. Küsschen rechts, Küsschen links.

Die herrlich verrückte Welt 14.

Cheryl kommt aus dem Staunen nicht heraus, als der Adolf Schulze-Mayer schon wieder auftaucht.
Entschuldigen sie bitte, nur noch eine allgemeine Frage: Ihre Nachbarin selbst ist doch kerngesund und couragiert. Was meinen sie, warum sie nicht statt ihres Mannes eine Hilfskraft für den Laden einstellt?
Wieder so eine Frage, die sie bitte an Frau Käthe Kohl selbst stellen sollten. Was weiß ich denn, wie das bei denen zugeht, ob sie knapp bei Kasse sind oder so. Sie ist hier bei mir nie so erzählfreudig oder gar klagebedürftig.
Scheint sehr zupackend und nicht geschwätzig zu sein. Das gefällt mir sehr. Ich würde ihr ja gerne unter die Arme greifen, aber sie ist immer noch nicht zurück.
Da brauchen sie eben Geduld. Aber ich denke, so praktisch, wie sie ist, würde sie eine verschwiegene, freundliche Hilfe nicht ablehnen.
Darf ich mich hier ein wenig setzen, um zu warten? Draußen ist es ganz schön kühl. Außerdem muss mich nicht jeder da vor dem Laden stehen sehen.
Cheryl überlegt einen Augenblick und sieht auf die Uhr. Es ist schon 11.30 Uhr. Noch etwas Zeit bis zur Mittagsschließung.
Also meinetwegen. Kommt vielleicht keine Kundschaft mehr für mich. Wenn ich inzwischen in meine Küche gehen und mein Mittagessen vorbereiten darf?
Ist das nicht leichtsinnig, einen fremden Mann allein in ihrem Laden zu lassen?
Sie sehen recht vertrauenswürdig aus.
Danke. Dann gehen sie. Hören sie dort die Ladenklingel, falls doch jemand kommt?
Natürlich, sonst könnte ich das nicht tun.
Aber kurz drauf geht tatsächlich die Klingel und Cheryl saust nach vorn.
Die Nachbarin steht mit verweinten Augen da.
Mein Mann musste ins Krankenhaus. Was mache ich jetzt nur?
Ach, Frau Kohl, sie sollten sich längst schon eine Hilfe hier für den Laden anstellen, wenn sie einkaufen fahren oder auf dem Markt stehen.
Herr Schulze-Mayer ergreift die Gelegenheit.
Wer sind sie bitte?
Frau Kohl kann sich nicht auf die Begegnung mit ihm im Rathaus besinnen, aber als er sich erklärt hat, sagt sie nur: Ach so.
Und wie, bitte schön, wollen gerade sie mir helfen?
Mit Rat und Tat, falls es erwünscht ist. Sicher gibt es im Haus Sachen, die wegen der Erkrankung ihres Mannes schon lange liegen geblieben sind, und die eine Männerhand gut gebrauchen können.
Sie mustert ihn und Cheryl sieht, dass sie auch seinen Geruch wahrnimmt.
Sie sind wohl alleinstehend?
Ja, wieso?
Ehrlich gesagt, eine Frau würde sehen, dass ihre Kleidung in die Waschmaschine muss. Wer macht ihnen denn Haushalt und Wäsche.
Das kann ich alles selber, mache es schon seit Jahren. Meinen sie, ich sollte die Kleidung öfter wechseln?
Ja, das meine ich.
Das sitzt. Er ist verdutzt über ihre Direktheit. Trotzdem scheint er es ihr nicht zu verübeln und beharrt auf seinem Hilfsangebot.
Mein Gott, dachte Cheryl, ob der Liebes – und Verwirrzauber schon zugeschlagen hat?
Frau Kohl mustert ihn erneut.
Kommen sie wieder, wenn sie sich umgekleidet haben und bringen sie einen Arbeitskittel mit, falls sie einen haben. Im Keller müsste mal nach dem Haupthahn der Wasserleitung geguckt werden, an der Heizung stimmt auch etwas nicht, denke, es ist die Wasserzufuhr. Hätten sie Ahnung davon? Mein Mann hat das früher immer erledigt.
Herr Schulze-Mayer steht zufrieden auf und verabschiedet sich herzlich von Frau Kohl per Handschlag. Cheryl nickt er bloß zu.
Käthe Kohl sinkt auf das Sofa. Sie ist sichtbar erledigt und Cheryl bietet ihr eine Erfrischung an, schließt den Laden und nimmt sie mit in ihre Küche, wo die Nachbarin heftig zu weinen beginnt.
Was Cheryl nie erwartet hätte, sie schüttet ihr das Herz aus.
Wir haben ja einen Sohn, der eigentlich helfen könnte, aber den haben wir zum Wirtschafts-Studium geschickt und nun will dieser undankbare mit dem Gemüseladen nichts mehr zu tun haben. Wie man´s macht, ist es verkehrt! Wir hätten ihn als Lehrbuben ausbilden sollen und erst sehen, was er taugt.
Sicher hatte er schon früher nicht viel für Gemüse übrig?
Genau. Und nun lässt er mich im Stich mit dem kranken Mann.
Als meine Mutter Krebs bekam, habe ich mein Studium sausen lassen und sie gepflegt bis sie starb. Dann hat die Oma Goldinger mir das hier vererbt. Ohne den Verdienst meiner Mutter konnte ich eh nicht weiterstudieren. Mein Vater verdiente damals zu gut, da war kein Bafög drin.
Mädchen haben offensichtlich mehr Herz für die Mutter.
Haben sie ihm denn überhaupt schon gesagt, wie es hier steht?
Ich muss ihn heute anrufen und sagen, dass sein Vater im Krankenhaus liegt. Vielleicht kommt er her und sieht alles.
Man muss ehrlich sein und bitten, wenn man Hilfe braucht.
Meinen sie?
Klar doch. Oma Goldinger würde sagen dass schon in der Bibel steht: Bittet, so wird euch gegeben. Klopfet an, so wird euch aufgetan. – Zu viel Stolz ist nicht gut. Schon gar nicht dem eigenen Kind gegenüber. Männer sehen oft nicht von allein, wie es jemandem geht und was nötig ist.
Da könnten sie recht haben. Wo schon ein völlig fremder aufmerksam geworden ist und mir helfen will.

Die herrlich verrückte Welt 13.

Ich bin nur eine abgebrochene Kunststudentin, die jetzt hier den Laden ihrer Oma weiterführt. Von Rechnungswesen und Verwaltung keinen blassen Schimmer. Ich brauche Freiwillige, eventuell erfahrene Rentner, die einen Job bei dieser Sache annehmen können, sich voll engagieren wollen. Ich stelle Bauarbeiter ein, für die notwendigen Arbeiten wie Toilettenumbau, Heizungssanierung, brauche einen Bauleiter, einen guten Organisator, der sich rasch Übersicht verschafft. Denn Eile ist geboten, der Winter kommt garantiert, kann sogar frühzeitig harte Vorboten schicken.
Können sie den regulär bezahlen oder denken sie an Schwarzarbeit?
Na, hören sie mal, bei mir geht alles nach Gesetz und Ordnung, hätt ich sie sonst gerufen?
Entschuldigung! Gut, ich kann in einem Artikel ihre Nöte beschreiben.
Herr Lohe meldete sich zu Wort. Ist denn auf dem Grundstück der Wirtin nicht ein großer Garten?
Ja, den hat sie nicht mehr bearbeiten können. Es liegt angrenzend sogar noch verpachtetes Feld.
Ich bin auf der Suche nach Aufstellungsmöglichkeiten für einen von mir geräumten Verkaufspavillon, den ich für die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung stelle.
Das wird wohl nichts, es sei denn, sie stellen Toiletten und Waschräume ebenfalls auf. Wie groß ist denn so ein Pavillon?
Groß: 144 m2, das sind etwa drei Klassenzimmer.
Wahnsinn! Aber da geht nur einer in den Garten, wenn noch Toiletten und Waschräume dazu kommen. Das muss schon sein. In den Pavillon würden eine Menge Notbetten reingehen, entsprechend groß fallen dann die Begleiträume aus. Ein bestimmtes Platzvolumen ist wohl auch für Flüchtlinge vorgeschrieben, das sind Einschränkungen. Aber psychologisch ist Abgrenzung für jede Person extrem wichtig. Es gibt schon genug Streitfälle, wie man hören und lesen konnte.
Frau Mai hat aufmerksam zugehört: Vielleicht lässt sich der zweite Pavillon für Toiletten und das benutzen?
Das kann ich nicht bestimmen. Frau Traub hat bisher nur zum Umbau des Tanzsaales ja gesagt. Ob sie den Garten auch noch hergibt, ist fraglich. So groß ist die Küchenkapazität nicht, diese neue Variante ebenfalls zu verkraften.
Aber hören sie, diese Sache fällt nicht mehr in meine Kompetenz, denn mein zeitliches und kraftmäßiges Limit ist begrenzt. Ich hab den Laden und ein Privatleben. Es wäre mir auch lieb, wenn die alte Wirtin nicht überfordert würde. Die organisiert die Kocherei mit Helfern und Spenden aus der Stadt. Eigentlich wollte sie das schon in jüngere Hände geben, will aber die Aufsicht behalten, schon wegen der Hygiene und ihrem guten Ruf als Köchin.
Cheryl findet das Gespräch langsam anstrengend. Warum muss sie sich jetzt sogar wehren? Die allgemeine Notsituation bringt mich in eine Zwangslage. Wenn es solche Mühe macht, wie soll man da den Humor behalten? Aber ohne Humor ist das menschliche Leben unerträglich. Sie lacht plötzlich ziemlich unmotiviert, finden die anderen beiden.
Sie starren sie verwirrt an.
Was ist daran lustig?
Na eben, nix. Das ist es ja, ich will nicht verrückt werden bei all dem Elend. Wir sind in Edenbach. Der Garten Eden ist ein Synonym fürs Paradies. Milch und Honig fließen hier gerade nicht. Versuchungen gibt es viele, aber wir wollen die Vertreibung nicht provozieren. Ein Ort der Glückseligkeit muss sich seinen Namen verdienen. Das Prinzip Hoffnung allein trägt nicht. Ohne menschlichen Humor und viel Arbeit geht es nicht.
Gut, ich habe bald den nächsten Termin mit Grundstücksbesitzern wegen der Pavillons von Herrn Lohe. Vielleicht gibt es da schon eine bessere Lösung. Ich habe notiert: Sie suchen aus der Bevölkerung einen Bauleiter, Bauarbeiter und Hilfskräfte, die kann vielleicht das Jobcenter stellen.
Und eine große Bitte: Lassen sie mich nicht hochleben, das wäre mir peinlich. Es soll nicht zu viel Lärm darum entstehen, damit nicht Einbrecher auf die Idee kommen, bei mir gäb´s was zu holen. Unordnung und Chaos wären das letzte, was ich hier in dem kleinen Haus, Laden und Atelier gebrauchen könnte.
Okay. Ich versuche, dieser Bitte zu entsprechen, kann aber nichts machen, wenn mein Chef meint, dass ich ihnen ein Loblied singen muss.
Frau Mai und Herr Lohe gehen.

Die herrlich verrückte Welt 12.

Klar. Also Buchführung, Verwaltung, Bauleitung, Fürsprecher bei der Stadt
Eine gewisse Öffentlichkeit muss hergestellt werden, damit die Menschen hier wissen, was vor sich geht. Freiwillige werden sich angesprochen fühlen, ich muss nur aufpassen, nicht an Hasadeure zu geraten, an Aufschneider und Betrüger.
Sie scheinen Erfahrungen zu haben.
Vertrauensvorschuss ist wichtig, aber der allein kann mich nicht schützen und das Vorhaben.
Also benötigen sie wohl auch noch einen Rechtsanwalt, der sich in Verwaltungsrecht und Sozialamt auskennt.
Meinen sie? Ja, könnte wichtig werden, wenn es Streit gibt. Den gibt es immer, wo Menschen und Gefühle aufeinanderprallen.
Ich habe einiges notiert, aber wir müssen zuerst den Vertrag mit der Frau Wirtin und die Bankgeschichte regeln.
Mir schwirrt der Kopf.
Wem sagen sie das?!
Zum Glück ist ihr Laden der reinste Ruhepol. Daher nehmen sie wohl auch die Kraft für den Überblick, den sie bei aller Betroffenheit zeigen.
Danke! Ich nehme das als Kompliment. Arbeiten sie rasch und angemessen gut. Wie wollen sie entlohnt werden? Wöchentlich, monatlich, nach Fertigstellung? Oder hat Herr Hosengut da die Kompetenz?
Cheryl lacht. Die Ladenklingel geht. Herein spaziert Herr Schulze-Mayer, Adolf. Er stellt sich umständlich vor und wünscht ein Gespräch mit Cheryl unter vier Augen.
Wir sind soweit fertig. Ich verabschiede mich also.
Cheryl gibt ihm die Hand und schaut ihn zwinkernd an, was er natürlich nicht versteht, aber das ist ihr egal.
Höflich wendet sie sich an den Besucher. Sie ist gespannt, was er von ihr will und stellt fest, dass es wirklich schon um ihre Nachbarin Käthe Kohl geht. Er will eine Auskunft, weil diese heute ihren Marktstand nicht belegt hat.
Ich bin keine Auskunftei. Außerdem hat sie mit Laden und Markt so viel Stress, dass es kaum mal zu ein paar persönlichen Worten kommt. Sie müssen sich schon selbst zu ihr bemühen.
Beleidigt will er gehen. Aber sie möchte ihn sich nicht zum Feind machen.
Vielleicht ist ihr Mann wieder krank, dann muss sie selbst im Laden bedienen oder ihn zum Arzt kutschieren. Der läuft ja so schlecht, hat dauernd Hexenschuss …
Ach? Das ist gut, dass ich das weiß. Sie schmeißt wohl alles allein, ist tüchtig?
Na, das müssen sie mir schon glauben!
Danke.
Er verabschiedet sich. Cheryl lächelt in sich hinein. Sein Interesse scheint ihr für den Verwirrzauber von Wichtigkeit, aber sein gezücktes Notizbüchel und der gespitzte Kopierstift, den er dauernd anleckt, sind ihr höchst zuwider. Es schien, als hinterließe er einen Altmännergeruch von ungewaschener Kleidung im Laden. Darum tritt sie vor die Tür und lässt Frischluft herein.
Herr Schulze-Mayer steht jetzt vor dem Gemüseladen. Aha, da hängt also ein Zettel, den er liest. Als er zurück kommt, nickt er ihr zu: Wegen Krankheit geschlossen. Wahrscheinlich haben sie recht.
Er schien ihr deutlich freundlicher zu sein, als vorhin.
Sie überlegt. Hatte sie überhaupt einen Tagesplan für heute? Die Ereignisse folgten so Schlag auf Schlag, dass sie im Moment nicht weiß, was sie sich für heute vorgenommen hat. Lesen mochte sie auch nicht. Langeweile war ihr eigentlich fremd, aber nun dachte sie mehr an Flüchtlinge, an Liebe, Kellerleiter, Einkochen, ja, auch mal wieder Hausputz und eine ordentliche Mahlzeit kochen. Sie spürt, dass Liebe hungrig macht und geht hinter in die Küche. Sie kann die Ladenklingel auch von hier hören, falls jemand kommen sollte.
Aber plötzlich klingelt das Telefon. Cheryl rast in den Laden und hofft auf ein Gespräch mit Finn. Sie nimmt ab und meldet sich. Es ist die Redakteurin Mai, die doch schon jetzt kommen möchte. Klar, das ist gut. Und es dauert nicht lange, da fährt schon ein kleines Auto vor und eine lange, dünne Frau mit männlich kurzem Haarschnitt steigt aus. Doch aus der Seitentür beim Beifahrersitz steigt noch ein rundlicher Herr mit Goldbrille und einer kleinen Haarinsel mitten auf dem blanken Kopf. Cheryl begrüßt beide. Der männliche Begleiter wird ihr als Lovis Lohe vorgestellt, ein Verkäufer von Zelten, Wohnwagen und Autoanhängern.
Sie bittet die beiden auf das Sofa und holt sich wieder ihren Hocker hinter der Kasse hervor. Frau Monika Mai bittet um einen Tisch, um ihren Laptop nicht auf den Knien halten zu müssen. Die Tische im Laden sind zu hoch, Cheryl fällt der Klapptisch in der Ecke ein und er findet Gnade vor den Augen der Besucherin.
Sie haben Ideen, Flüchtlinge unterzubringen, sagten sie am Telefon. Frau Mai schaut interessiert.
Genau. Mir dreht sich das Herz im Leib herum, wenn ich an die frierenden Kinder in den Zelten denke. Sie stammen aus viel wärmeren Ländern und haben eine anstrengende Flucht hinter sich mit vielerlei Strapazen und beängstigenden Situationen. Ich glaube, dass ich helfen kann und will einen Teil meiner Verantwortung als nicht so arme Deutsche wahrnehmen.
Das ist ja toll! Wollen sie spenden?
Nein, so direkt vertraue ich ehrlich gesagt den Verantwortlichen nicht. Sie sind alle ziemlich unvorbereitet und hilflos. Ich habe einen Ort aufgetan: Die Frau Traub von der Wirtschaft „Am Mühlgraben“ kocht schon für Flüchtlinge. Früher waren in ihrem großen Saal Tanzveranstaltungen. Ihre Küche ist also groß genug, noch mehr zu kochen. Sie hat sich schon allerlei Hilfe organisiert, die sich erweitern ließe. Meine Idee dreht sich um den seit dem Tod ihres Mannes ungenutzten Tanzsaal, den man als Winterquartier für Frauen und Kinder nutzen könnte. Ich habe schon Verbindung mit dem Architekten Hannes Hosengut aufgenommen, der seinen Gehilfen Robert Dillgarten beauftragt hat, meine Wünsche aufzunehmen und so gut es geht umzusetzen.
Mein Gott, das ist ja Wahnsinn. Sie haben schon mit der Organisation begonnen. Was können wir von der Zeitung tun, ihrer Ansicht nach?

Die herrlich verrückte Welt 11.

Muss ich mit dem Architekten bekakeln. Und mit der Frau für Soziales. Oder von wem ist eigentlich dieser Zeitungsartikel?
Sie ruft die Redaktion an und bittet um ein Gespräch. Frau Mai hat jetzt keine Zeit, aber am Nachmittag kommt sie in den Laden. gut so.
Katzenlärm. Na nu?
Ach, tatsächlich, sie regen sich schon auf, wenn der Hilfsarchitekt nur vor das Haus kommt.
Herr Dillgarten tritt ein. Guten Morgen.
Guten Morgen.
Also, ich muss mit dieser Wirtin einen Vertrag machen, dabei müssen sie als Finanzier sozusagen anwesend sein.
Klar. Heute Morgen war ich schon bei Anna Traub. Sie ist mit allem einverstanden, wenn sie keine Kosten hat und wenn sie nicht Steuererhöhung befürchten muss wegen des Vorhabens.
Wir werden also auch ein extra Konto bei der Bank benötigen, von dem Baumaterial und Löhne abgehen können. Wie wollen sie vorgehen?
Vorläufig müssten € 50 000 auf so einem Konto angebracht sein, was meinen sie?
Müsste erst einmal reichen, ja. Es soll nichts verschleudert werden, aber dafür bräuchten sie noch einen, der Ahnung von Preisen und Löhnen hat, der die Kontrolle behält.
Stimmt. Mit solchen Dingen kenne ich mich nicht aus. So ein Aufwand!
Ja, sie lassen sich auf ein großes Vorhaben ein. Wissen sie, was da für Heizung ist in dem Saal? Der ist ja riesig und sehr hoch.
Das Raumvolumen wird aber für die Luftzirkulation wichtig sein. Welche Gedanken haben sie sich gemacht, wie man einigermaßen getrennte Lebensbereiche herstellen kann?
Ich dachte, das soll nur Ersatz für die Notunterkunft werden?
Aber ich will da keine Männer einquartieren lassen vorläufig. Die halten die Zelte noch eine Weile aus, wenn sie beginnen, sich selbst zu organisieren. In den Saal möchte ich Frauen mit ihren Kindern bringen. Hab mir sagen lassen, dass einige Babys noch gestillt werden. Diese Frauen vor allen Dingen müssen eine Abschirmung bekommen vor fremden Blicken. Wegwerfwindeln machen Müll, wie auch das Leben an sich, also auch neue Müllkontainer müssen her.
Das sind durchdachte Ideen, die sie da haben. Ich als Mann hatte an so etwas gar nicht gedacht. Aber klar, es sind vielmehr alleinstehende Männer da, als Familien. So eine Trennung wäre wohl die effektivste Lösung.
Wer könnte die notwendigen Schritte bei der Stadt einleiten?
Sie wollen nicht selber hingehen?
Ich möchte meinen Laden behalten und nicht als „Gutmensch“ bei der Stadt fungieren. Mit Ämtern habe ich nichts im Sinn. Beamte sind oft undurchschaubar, umständlich, langsam und mir gegenüber als Frau meist unkooperativ.
Könnte stimmen.
Ich weiß, sie als Mann ….
Er lacht verlegen. Also einen Heizungsexperten kenne ich, der wird aber gleich Solarzellen auf dem Dach anbringen wollen. Dazu ist das Dach des Gasthauses besser geeignet, als das Flachdach vom Saal.
Das Dach vom Saal muss auch geprüft werden, ob es fest genug ist für ein zweites oder sogar drittes Geschoss.
Dann werden wir besser gleich im Saal tragende Wände einziehen müssen, die paar Säulen bringen das nicht.
Umso besser.
Aber die Zeit drängt. Auf einer Baustelle sollen sie ja nicht leben müssen, wenn ich sie richtig verstehe.
Der Ablauf muss richtig geplant werden. Nach meiner Intention von Müttern mit Kindern könnten zuerst transportable Trennwände eingesetzt werden. Die Bauseite muss man richtig mit Planen absperren, damit kein Baudreck stört, Maurer sind außerdem auch meist Männer.
Vielleicht sollte man gleich den Raum zweiteilen mit einer Mauer und vorerst nur in einem Teil Leute unterbringen. Das spart auch Zeit und Geld. Ich würde sagen, wir lassen die Bauleute nicht in die Toilettenräume des Saales. Die Einzelklosetts müssen abzusperren gehen wie in Schwimmbädern. Bevor das geleistet ist, werden die Toiletten der Kneipe von den Bauleuten mit genutzt werden müssen. Den Dreck müssen wir der Wirtin wohl zumuten.
Sie hat sich schon Helfer zum kochen organisiert, dann braucht sie halt noch eine Putzkolonne. Schade, dass so rasch keine Arbeitserlaubnis für die Flüchtlinge zu haben sein wird. Das könnte doch die schnelle Eingliederung erleichtern.
Oh Frau, sie sind wirklich zu kompetent für unsere Ämter! Die sind aber auf allen Ebenen mit diesem Flüchtlingsandrang überfordert.
Ich weiß, denn ich sitze vor dem PC und heule, wenn ich das so alles sehe. Diese Menschen benötigen endlich Sicherheit und Status, ihre Anwesenheit kann auch Arbeitsplätze für Ansässige schaffen. Da müssten sich die Jobcenter bewegen. – Die Schnelligkeit der Verfahren um Unterscheidung von Kriegsflüchtlingen und den Zurückzuführenden muss erhöht werden. Das kann auch nur mit Hilfe von sprachbegabten Flüchtlingen wirklich gemeistert werden, weil so rasch keine zusätzlichen deutschen Kräfte ausgebildet werden können. Rentner kann man mobilisieren, die Hilfsbereitschaft des Anfangs muss manifestiert werden, bevor sich Überdruss breitmacht, bevor das Chaos die Städte erfasst, bevor Kriminalität einen Nährboden findet sich zu entwickeln.
Frau Goldinger, sie sollten doch als Beraterin tätig werden. Sie denken so klar.
Da bin ich doch sicher nicht allein. Es gibt ältere Menschen, die die Fakten ebenfalls wahrnehmen. Mir fehlen die Kompetenzen. Ich kann nur eine Sache richtig durchführen und habe meine Prioritäten festgelegt. Helfen sie mir, dafür die geeigneten Menschen anzuheuern.

Die herrlich verrückte Welt 10.

Kaum hat sie den Laden durchquert und das Klapprad in der Küche, geht wieder die Ladenklingel. Sie wundert sich, aber da steht Herr Schulze-Mayer in seiner ganzen geringen Körperhöhe mittendrin und füllt doch irgendwie alles aus. So hat sie sich immer orientalische Märchenerzähler vorgestellt. Wo stammt eigentlich der Name Aris her?
Guten Morgen.
Guten Morgen. Es geht gut, wie ich sehe. Die Zufriedenheit lässt die Augen des Goldkinds glänzen.
Ja, bis jetzt Glück auf der ganzen Linie. Ich komme gerade von der Wirtin am Mühlgraben. Scheint nicht schwierig zu sein. Sie wirkt gerne mit, hat Empathie mit den Flüchtlingen, freut sich, dass mir die Kinder am Herzen liegen.
Die Schwierigkeiten warten schon.
Wie? Welche Schwierigkeiten?
Da sitzt einer im Bauamt der Stadt, der hat die braune Gesinnung seines Vaters geerbt. Dem kam der Brand gerade recht, der will keinen Islam hier, obwohl er längst nominell kein Christ mehr ist aus Geiz.
Die Kirchensteuer nicht mehr bezahlt?
Genau. Dazu noch judenfeindlich, hetzt gegen „Ziegeunerpack“ und Rassenvermischung. Der könnte längst in Rente sein, aber er ist mit seinem Amt verheiratet. Seine Frau ist ihm schon vor zwanzig Jahren mit einem schwarzen Amerikaner durchgebrannt. Er führt Buch über alle „Grenzgänger“ in seinem Haus, denn darunter versteht er Liebeshändel genauso wie Betrug und Bestechung.
Welche Schwierigkeiten könnten das sein?
Der Toilettenumbau erfordert einen neuen Kanalanschluss, den wird er nicht genehmigen. Der Saal ist seit langem weg vom Kanalnetz der Stadt, faktisch, seit er nicht mehr betrieben wird, weil die Hygiene das Klo gesperrt hatte. Das war der Anna damals ganz recht, die viele Arbeit, als verwitwete Frau allein nicht mehr zu stemmen. Die entstehenden Kosten ungedeckt.
Wie heißt der Mann dort?
Schulze-Mayer, Adolf…
Ach, ein Verwandter?
Meines Vaters Bruder, eigentlich ein Depp, aber mit Kompetenzen. Er ist der Finanzwächter praktisch dort, obwohl sie ihn längst zum Bauamt abgeschoben haben. Gibt aber immer noch Leute, für die er sozusagen ein Vorbild ist.
Mein Gott!
Du sagst es. Was meinst du, soll ich tun? Ihm den Verstand verwirren?
Ja, mach ihn doch einfach in eine alte Marktfrau verliebt, meine Nachbarin ist so auf Zack, eine tolle Geschäftsfrau, die könnte ihn mit ihrem Mundwerk fertig machen.
Die ist doch verheiratet, das passt nicht zu ihm.
Es heißt aber doch: Wo die Liebe hinfällt … Vielleicht wird er ja auf seine alten Tage noch mal brünstig, geil oder wie sagt man heute?
Wo kommt eigentlich dein Name her. Aris ist ungewöhnlich.
Meine Mutter war Griechin, liebte die Philosophie und die Künste. Ihr erstgeborener Sohn hieß Aristoteles, der starb schon drei Tage nach der Geburt. Als ich kam, nannten sie mich Aristophanes, nach einem griechischen Komödienschreiber. Das steht in meinem Ausweis. Aris ist einfacher.
Toll! Aber warum bist du so klein, wenn ich fragen darf.
Nach meiner Geburt ging es meiner Mutter schlecht. Sie hat das kalte Deutschland nicht vertragen. Das helfende Nachbarmädchen hat mich von der Wickelkommode fallen lassen, daher die Verwachsung. Sonst bin ich gesund, aber meine Mutter ist damals gestorben.
Schlimmes Geschick – so wie du bist, habe ich mir immer den kleinen Muck vorgestellt, den arabischen Geschichtenerzähler.
Sie lachen sich an.
Mal sehn, was sich mit dem Onkel deichseln lässt.
Wer wird in der Stadt nachrücken?
Ich glaube, dass die Frau des Bürgermeisters den Posten bekommt. Sie war Bauleiterin, aber der neue, der die Firma gekauft hat, hat sich seinen Mann dafür mitgebracht und sie entlassen.
Ist die gut?
Von einer Frau erwarte ich Mitgefühl für die Flüchtlinge. Die kann denken und hat organisieren gelernt.
Dein Wort in Gottes Gehörgang. – Also: Toi, toi, toi!
Tschüss!

Die Zeitung steckt an der Ladentür. Wieder keine Zeit dieser Briefträger.
Cheryl überfliegt die Schlagzeilen: Müll von vorgestern.
Auf der 2. Seite soziale Brennpunkte. Die Ministerin fürchtet Übergriffe auf niedliche Flüchtlingsmädchen. Die schwedische Königin mit ihrer Gründung bittet, man müsse die Frauen und Kinder schützen, weil die jungen Männer in der Überzahl kommen und vielleicht zu unverfroren sind.
Bedenkenswert. Sehr wichtig!
Cheryl überlegt: Frauen und Kinder von den Männern trennen. Das wäre ein Königsweg, bevor die Männertoiletten umgebaut sind am Mühlgraben. Das könnte den Grund hergeben. Aber die Männer haben in den muslimischen Familien das Sagen, die geben ihre Frauen nicht weg, weil sie den eigenen Dreck nicht wegmachen wollen. Putzen und Wäsche waschen, das sind Frauenpflichten. Was könnten sie aber machen, wenn es so angeordnet wird?
Männer müssen in ihrem Zeltlager selbst Ordnung schaffen, eine eigene Leitung mit Befugnissen, um zur Arbeit zu zwingen und Sport und Spiel für die Leute organisieren mit den ortsansässigen Sportvereinen. Dort können sie Fairness lernen, auch gegenüber den Frauen. Deutsche Hausfrauen möchten nicht beglotzt werden und hassen diese Anmache, als wären sie alle Nutten, nur weil sie sich anders benehmen, als Muslima.

Die herrlich verrückte Welt 9.

Sie überlegt, dass die Katzenklappe eigentlich längst schon doppelt sein sollte wegen des kommenden Winters. Noch eine bevorstehende Ausgabe. Die Ledervorrichtung mit Schiebetürchen davor hat in all den Jahren gereicht. Aber wenn man´s gemütlicher haben kann.
Nachdem der Grasteppich wieder richtig liegt, stellt sie nicht wie gewohnt das Tischchen drauf, sondern geht aus der Küche eine Stück Malerplane holen und legt es aus. Darauf stellt sie das Fahrrad auf den Ständer. Ganz schön schmutzig alles. Weiter einen Eimer mit Warmwasser füllen, Schwamm, Lappen und das Pflegeöl, das sie auch für die Nähmaschine benutzt. Sie nimmt noch das Fit mit raus. Wofür so ein Geschirrspülmittel nicht alles gut ist.
Sie reibt erst vorsichtig mit ein bisschen Küchenkrepp das Gröbste weg, dann mit dem nassen Schwamm überall. Schwer zwischen die Speichen zu kommen, aber muss sein. Mit dem Lappen alles trocken reiben: blitzt wieder. Am Gepäckträger und an den Schutzblechen die kleinen Rostflecke ölen und die Kette auch. Sie steht auf und tritt zurück. Alles super.
Sie pumpt die Reifen auf. Glücksache, das alles noch dicht ist.
Das Radel nimmt sie in die Küche, die Kater kommen mit rein, die Katzen raus in die Büsche.
Noch 40 min Zeit, also Jacke an und durch den Laden raus. Zum Glück hat die Jeans enge Hosenbeine, also keine Vorsorge nötig. Aber als sie aufsteigt kommt sie sich doch komisch vor. Bald macht sie Fahrt und ist rasch am Mühlgraben. Diesmal putzt die alte Wirtin gerade ihre Treppe.
Cheryl bittet um ein kleines Gespräch. Sie schauen sich abschätzend an, sind sich fremd.
Ich muss aber gleich auf den Markt Gemüse einkaufen.
So lange dauert es wohl nicht.
Worum geht es?
Um den Tanzsaal und die Flüchtlinge.
Hier im Nebenzimmer ist genug Platz für sie zum Essen. Sie kommen ja nicht alle auf einmal.
Ich möchte mich engagieren und helfen, die Misere mit dem Brand schnell vergessen zu machen: Schlafstätten für den kommenden Winter herrichten.
Ah! Die alte reicht ihr die abgearbeitete Hand. Mein Name ist Traub, Anna Traub.
Ich bin Cheryl Goldinger. Meine Oma überließ mir das Lädchen in der Heerstraße.
Kenn ich. Frau Goldinger ist tot? Mein Beileid. Hab ich nicht mitbekommen, aber von ihnen gehört. Sie malen Bilder. – Aber so viel Geld werden sie damit nicht verdienen. Haben sie eine Sammlung veranstaltet?
Hab ein wenig Geld und denke, dass es reicht, um zu helfen. Ein Architekt hat schon mal durch die Fenster gelugt. Groß ist der Saal ja und Toiletten sind auch da. Gibt es Schäden, die man erst beheben muss vor einer Nutzung?
Ich glaube, an einer Ecke ist das Dach leck und die Pissrinne in der Herrentoilette ist bemängelt worden von der Hygiene.
Das ist im Keller, ja? Muss also umgebaut werden. Es wird auch Duschen und so etwas geben müssen.
Aber Platz genug wäre. Ein Durchbruch zum früheren Weinkeller wär möglich, glaub ich. Den nutze ich seit dem Tod meines Mannes nicht mehr. Der Bierkeller war für meinen Umsatz immer groß genug.
Das sind gute Nachrichten, Frau Traub. Wann darf sich der Architekt denn das mal ansehen?
Also, wenn ich vom Markt zurück bin, sammeln sich meine Helfer bei mir in der Küche. Wenn er mit dem Auto kommt und draußen laut hupt, dann kriegen wir das mit. Die Bäcker und Fleischer mit ihren Spenden machen das auch so.
Sehr gut. Sie haben also im Prinzip nichts gegen eine Nutzung ihres Tanzsaales für die Flüchtlinge?
Wenn ich das nicht bezahlen soll, geht das in Ordnung. Mein Geld reicht grade für mich zum Leben, muss sehen, dass ich noch genug verdiene, für eine anständige Beerdigung. Irgendwann werd ich wohl meinem Gustav folgen.
Vielen Dank erst einmal, Frau Traub. Ich schicke den Architekten her, sobald er Zeit hat. Es eilt ja. Das Wetter kann sehr plötzlich umschlagen, Zelte sind jetzt ein übler Aufenthaltsort, besonders für Kinder.
So denke ich auch, Frau Goldinger. Ich finde es toll, dass sie sich auch um diese Menschen sorgen. Danke. Hat mich sehr gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen. – Hier nennen mich übrigens alle Anna, ist so üblich bei der Wirtin.
Also dann auf Wiedersehen Anna. Falls sie Fragen haben, ich steh im Telefonbuch.
Jetzt aber zurück zum Laden. Cheryl muss ja öffnen, vielleicht kommt heute die Kundschaft, die sie als Malerin entdeckt.
Aber als sie während der Fahrt weiter denkt, will sie nicht berühmt werden, das wäre zu viel Stress. Sie hat sich an ihr beschauliches Leben in der Kleinstadt gewöhnt, möchte nichts ändern – außer einem Liebhaber oder Mann, aber mit getrennten Wohnungen. Auch wegen Finn möchte sie ihr Heim nicht aufgeben.
Sie schaudert innerlich ein wenig, ist das mit der gültigen christlichen Moral vereinbar? Moral hin, Moral her, was soll´s. Sie haben beide niemanden verletzt, sind frei und ungebunden. Nicht mal im alten Judentum könnte sie jemand deshalb steinigen. Sie kennt die Bibel noch ganz gut. Auch Oma Goldinger war der Meinung, dass dieses Wissen unverzichtbar sei. Ein Glaube hilft bei vielen Dingen zu leben. Klar, wenn der Geist zu umnebelt ist, um selbst Entscheidungen zu treffen, sie denkt an die Meinung von Karl Marx über die Religion und ihr Absterben.
In der heutigen Welt, wo religiöser Fanatismus wieder zur Kriegsführung missbraucht wird, scheint ihr das fast unmöglich, obwohl die Menschen in Deutschland kaum noch einen Gottesdienst besuchen. Falls sie nicht überhaupt wegen der Kirchensteuer längst ausgetreten sind. Zahle ich überhaupt welche? Ich glaube, das hat Oma noch für mich geregelt. Bin ja getauft und konfirmiert.
Cheryl ist am Laden angekommen und steigt vom Fahrrad, nestelt den Schlüssel aus der Umhängetasche und macht auf. Die Ladenklingel scheppert: Wollte sie nicht längst eine neue haben? Aber diese hier ist wie ein Vermächtnis von Omi. Bevor die nicht kaputt ist, bleibt sie dran.

Die herrlich verrückte Welt 9.

Sie blickten sich in die Augen. Beide erfüllte Glückseligkeit. Sie wussten es nicht zu deuten. Das Universum öffnete sich einen Augenblick und ließ sie die Verbundenheit mit allem Glück, aller Zufriedenheit, allem Stolz der Menschen guten Willens fühlen.
Sie waren satt. Ihr Frühstück beendet. Ein neuer Arbeitstag begann. Viel hatten sie noch vor sich. Träume konnten sich erfüllen. Wege führten von hier in eine noch unbekannte Zukunft. Im Moment gab es keine Einbahnstraße. Sie standen an einem Kreuzpunkt, jetzt galt es frische Pfade zu ebnen und zu gehen.
Cheryl war voller Tatendrang. Ruhelos stand sie auf, wollte das Kaffeegeschirr abräumen. Aber Finn löste ihre Finger von der Tasse und führte sie an seinen Mund. Zog sie an sich. Küsste zärtlich erst ihre Stirn, dann, als sie ihn zu sich herunterzog und küsste, umarmte er sie eng und hielt sie still an sich gepresst, als wolle er sie nie wieder loslassen. Und so war es auch. Sie erwiderte den Druck liebkosend, streichelte seine Wange.
He, du musst dich rasieren. Ist ja richtig hart, was da bei dir sprießt.
Meinst du?
Sie fühlten beide im gleichen Moment, was da außerdem hart wurde.
Sie lachten. Er etwas erschrocken laut. Sie leise glucksend.
Dann trennten sie sich voneinander. Er ergriff den Henkel der Kaffeekanne und sie begann, die Tassen zusammenzustellen.
Lass mich das allein machen, du musst dich rasieren gehen, bevor die ersten Kunden bei dir klingeln. Hier gibt´s kein Rasierzeug.
Meine Kunden nehmen auch einen Dreitagebart in Kauf.
Na, nu geh schon.
Wo habe ich meine Schlüssel? Müssten hier in der Hosentasche stecken bei der Brieftasche.
Vielleicht oben rausgefallen gestern Abend?
Ich gehe suchen.
Er steigt die Treppe hinauf und kommt kurz drauf schlüsselklappernd wieder.
Ein Haus verliert nichts, Oma Goldingers Spruch.
Hat dir außer dem Haus und Lädchen viele Sprüche hinterlassen.
Lebensweisheiten, immer gültige. Ein ganzes Vademekum.
Er sieht sie fragend an.
Na, ein Buch, ein Leitfaden, auf den man immer zurückgreifen kann im Gedächtnis.
Klasse! – Tschüss dann also.
Tschüss mein Lieber.
Er geht durch den Laden, in der Ladentür steckt schon der Schlüssel, sie folgt ihm, winkt kurz hinterher und schließt wieder ab. Schaut sich im Laden um wie in einer neuen Welt. Alles sieht irgendwie verändert aus. Nur, dass sich außer ihr selbst nichts verändert hat. Oder doch?
Cheryl spült das Geschirr, denkt an die Wirtin und den alten Tanzsaal, die weiß von allem noch nichts. Ich muss hin. Sie stellt das Geschirr zum Abtropfen und lässt es dort stehen.
Auf der Terrasse gibt es eine mit einem wetterfesten Grasteppich belegte Holzklappe, die sie jetzt freilegt. Man muss am eingelassenen Eisenring ziehen, dann lässt sich öffnen. Sie legt die schwere Klappe ganz nach hinten, sucht nach einem Holzkeil, den sie einlegt, damit niemand sie da unten einsperren kann. Dann steigt sie die schmale Leiter runter in den niedrigen Keller, wo sie früher die Kohlen hatten, jetzt nur noch einen Kartoffelvorrat für den Winter einlegen will. Von der Straße fällt wenig Licht durch die mit Drahtglas verschlossene, völlig verdreckte Luke herein, aber sie sieht, was sie sucht: Ihr Fahrrad. Es ist leicht. Ein altes Klapprad. Noch genug Luft auf den Reifen? Nee, natürlich nicht. Die Luftpumpe ist dran, also erst mal raufschaffen. Sie wuchtet es die steile Leiter hoch, die zum Glück nicht lang ist, denn der Keller ist gerade mal 180 cm hoch. Genug für kleine Leute, wie sie früher fast alle waren.
Leere Gläser müsste sie noch hochschaffen, jetzt sind preiswert Früchte auf dem Markt. Einkochzeit. Vitamine für den Winter. Die Kartoffelhorde muss auch mit Essigwasser geschrubbt werden, bevor sie die Erdäpfel einkellert. Die Arbeit macht man am besten an der frischen Luft. Wieviel Zeit hat sie jetzt noch? Reicht.
Sie lehnt das Fahrrad gegen die Wand und steigt wieder runter. Oh, fühlt sich nicht mehr ganz fest an unter den Füßen. Die Leiter muss eventuell erneuert werden. Statt Holz wird sie eine aus Leichtmetall kaufen und regelmäßig streichen müssen. Kellerluft ist aggressiv.
Sie nimmt einen Drahtkorb aus der Ecke und lädt Einmachgläser aus einem Regal, im Dunkel entgleitet ihr ein Glas und zerbricht.
Glück und Glas, wie leicht bricht das. Einer von Omas Texten.
Aber sie hat einen festen Handfeger und Blechschaufel irgendwo hier. Na bitte. Rasch aufkehren, bevor sie sich verletzen kann. Aber der Abfalleier steht oben. Kann ja mal ein Plasteimer zu diesem Zweck hier unten lassen, denkt sie und lässt die volle Schippe einfach stehen. Nee, lieber weiter ins Licht stellen, sonst trete ich noch mal rein.
Dann trägt sie den Korb mit den leeren Weckgläsern vor dem Bauch nach oben, stellt ihn seitlich ab und geht zurück. Die Kartoffelhorde lässt sich leicht auseinander nehmen. Rasch ist die auch oben, aber nicht ohne Hindernis: Eine Sprosse bricht unter ihr durch.
Mein Gott, bin ich so schwer!?
Ist bloß morsch, das Holz, ich achte doch auf mein Gewicht. Sie lacht froh und schiebt das Holz der Horde von der Luke weg, bevor sie raus steigt und die Leiter hochzieht. Sie muss ja wissen, wie lang die ist, um die neue im richtigen Winkel wieder anbringen zu können. Schiebt alles zur Seite und wuchtet den innen mit Blech verkleideten Lukendeckel hoch, um den Eingang wieder zu schließen. Trotzdem gibt es einen Knall, weil sie ihn nicht ganz bis zuletzt festhalten kann. Plötzlich stehen die Kater innen vor der Terrassentür und jammern. Die haben Angst, dass etwas passiert ist. Cheryl öffnet kurz die Tür, sie schnuppern in die kühle Morgenluft und gehen beruhigt Geschäfte erledigen in die Büsche am Zaun.

Die herrlich verrückte Welt 8.

Sie blickten sich in die Augen. Beide erfüllte Glückseligkeit. Sie wussten es nicht zu deuten. Das Universum öffnete sich einen Augenblick und ließ sie die Verbundenheit mit allem Glück, aller Zufriedenheit, allem Stolz der Menschen guten Willens fühlen.
Sie waren satt. Ihr Frühstück beendet. Ein neuer Arbeitstag begann. Viel hatten sie noch vor sich. Träume konnten sich erfüllen. Wege führten von hier in eine noch unbekannte Zukunft. Im Moment gab es keine Einbahnstraße. Sie standen an einem Kreuzpunkt, jetzt galt es frische Pfade zu ebnen und zu gehen.
Cheryl war voller Tatendrang. Ruhelos stand sie auf, wollte das Kaffeegeschirr abräumen. Aber Finn löste ihre Finger von der Tasse und führte sie an seinen Mund. Zog sie an sich. Küsste zärtlich erst ihre Stirn, dann, als sie ihn zu sich herunterzog und küsste, umarmte er sie eng und hielt sie still an sich gepresst, als wolle er sie nie wieder loslassen. Und so war es auch. Sie erwiderte den Druck liebkosend, streichelte seine Wange.
He, du musst dich rasieren. Ist ja richtig hart, was da bei dir sprießt.
Meinst du?
Sie fühlten beide im gleichen Moment, was da außerdem hart wurde.
Sie lachten. Er etwas erschrocken laut. Sie leise glucksend.
Dann trennten sie sich voneinander. Er ergriff den Henkel der Kaffeekanne und sie begann, die Tassen zusammenzustellen.
Lass mich das allein machen, du musst dich rasieren gehen, bevor die ersten Kunden bei dir klingeln. Hier gibt´s kein Rasierzeug.
Meine Kunden nehmen auch einen Dreitagebart in Kauf.
Na, nu geh schon.
Wo habe ich meine Schlüssel? Müssten hier in der Hosentasche stecken bei der Brieftasche.
Vielleicht oben rausgefallen gestern Abend?
Ich gehe suchen.
Er steigt die Treppe hinauf und kommt kurz drauf schlüsselklappernd wieder.
Ein Haus verliert nichts, Oma Goldingers Spruch.
Hat dir außer dem Haus und Lädchen viele Sprüche hinterlassen.
Lebensweisheiten, immer gültige. Ein ganzes Vademekum.
Er sieht sie fragend an.
Na, ein Buch, ein Leitfaden, auf den man immer zurückgreifen kann im Gedächtnis.
Klasse! – Tschüss dann also.
Tschüss mein Lieber.
Er geht durch den Laden, in der Ladentür steckt schon der Schlüssel, sie folgt ihm, winkt kurz hinterher und schließt wieder ab. Schaut sich im Laden um wie in einer neuen Welt. Alles sieht irgendwie verändert aus. Nur, dass sich außer ihr selbst nichts verändert hat. Oder doch?
Cheryl spült das Geschirr, denkt an die Wirtin und den alten Tanzsaal, die weiß von allem noch nichts. Ich muss hin. Sie stellt das Geschirr zum Abtropfen und lässt es dort stehen.
Auf der Terrasse gibt es eine mit einem wetterfesten Grasteppich belegte Holzklappe, die sie jetzt freilegt. Man muss am eingelassenen Eisenring ziehen, dann lässt sich öffnen. Sie legt die schwere Klappe ganz nach hinten, sucht nach einem Holzkeil, den sie einlegt, damit niemand sie da unten einsperren kann. Dann steigt sie die schmale Leiter runter in den niedrigen Keller, wo sie früher die Kohlen hatten, jetzt nur noch einen Kartoffelvorrat für den Winter einlegen will. Von der Straße fällt wenig Licht durch die mit Drahtglas verschlossene, völlig verdreckte Luke herein, aber sie sieht, was sie sucht: Ihr Fahrrad. Es ist leicht. Ein altes Klapprad. Noch genug Luft auf den Reifen? Nee, natürlich nicht. Die Luftpumpe ist dran, also erst mal raufschaffen. Sie wuchtet es die steile Leiter hoch, die zum Glück nicht lang ist, denn der Keller ist gerade mal 180 cm hoch. Genug für kleine Leute, wie sie früher fast alle waren.
Leere Gläser müsste sie noch hochschaffen, jetzt sind preiswert Früchte auf dem Markt. Einkochzeit. Vitamine für den Winter. Die Kartoffelhorde muss auch mit Essigwasser geschrubbt werden, bevor sie die Erdäpfel einkellert. Die Arbeit macht man am besten an der frischen Luft. Wieviel Zeit hat sie jetzt noch? Reicht.
Sie lehnt das Fahrrad gegen die Wand und steigt wieder runter. Oh, fühlt sich nicht mehr ganz fest an unter den Füßen. Die Leiter muss eventuell erneuert werden. Statt Holz wird sie eine aus Leichtmetall kaufen und regelmäßig streichen müssen. Kellerluft ist aggressiv.
Sie nimmt einen Drahtkorb aus der Ecke und lädt Einmachgläser aus einem Regal, im Dunkel entgleitet ihr ein Glas und zerbricht.
Glück und Glas, wie leicht bricht das. Einer von Omas Texten.
Aber sie hat einen festen Handfeger und Blechschaufel irgendwo hier. Na bitte. Rasch aufkehren, bevor sie sich verletzen kann. Aber der Abfalleier steht oben. Kann ja mal ein Plasteimer zu diesem Zweck hier unten lassen, denkt sie und lässt die volle Schippe einfach stehen. Nee, lieber weiter ins Licht stellen, sonst trete ich noch mal rein.
Dann trägt sie den Korb mit den leeren Weckgläsern vor dem Bauch nach oben, stellt ihn seitlich ab und geht zurück. Die Kartoffelhorde lässt sich leicht auseinander nehmen. Rasch ist die auch oben, aber nicht ohne Hindernis: Eine Sprosse bricht unter ihr durch.
Mein Gott, bin ich so schwer!?
Ist bloß morsch, das Holz, ich achte doch auf mein Gewicht. Sie lacht froh und schiebt das Holz der Horde von der Luke weg, bevor sie raus steigt und die Leiter hochzieht. Sie muss ja wissen, wie lang die ist, um die neue im richtigen Winkel wieder anbringen zu können. Schiebt alles zur Seite und wuchtet den innen mit Blech verkleideten Lukendeckel hoch, um den Eingang wieder zu schließen. Trotzdem gibt es einen Knall, weil sie ihn nicht ganz bis zuletzt festhalten kann. Plötzlich stehen die Kater innen vor der Terrassentür und jammern. Die haben Angst, dass etwas passiert ist. Cheryl öffnet kurz die Tür, sie schnuppern in die kühle Morgenluft und gehen beruhigt Geschäfte erledigen in die Büsche am Zaun.